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Das göttliche Mädchen - Carter, A: Das göttliche Mädchen

Das göttliche Mädchen - Carter, A: Das göttliche Mädchen

Titel: Das göttliche Mädchen - Carter, A: Das göttliche Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aimée Carter
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Mutter war. Und das war jetzt anders.
    Ich versuchte ihre Hand zu ergreifen, doch der Boden schwankte unter mir, und ich plumpste zurück auf die Bank. Es war dunkel, das genaue Gegenteil zu den hellen Tagen, die wir miteinander verbracht hatten. Doch der Mond und die funkelnden Sterne über uns gaben genug Licht, dass ich erkennen konnte, wo wir waren. Auch heute befanden wir uns im Central Park, doch zum ersten Mal, seit meine Träume begonnen hatten, waren wir nicht auf Sheep Meadow. Wir saßen in einem Boot, das mitten auf dem See trieb.
    Ich erstarrte. Bei genau so einem Ausflug war ich als kleines Mädchen fast ertrunken.
    „Mom, ich …“ Meine Stimme brach und war schwächer als gewohnt. Ich war erschöpft und wollte nichts mehr, als meine Augen zu schließen und alles zu vergessen. Es mit dem Rest meines Lebens verblassen zu lassen. „Es tut mir leid.“
    Unbeirrt starrte sie weiter aufs Wasser, und ihr Kummer zeichnete sich so deutlich auf ihrem Gesicht ab, dass ich ihn beinah körperlich spürte.
    „Es ist nicht deine Schuld.“ Ihre Worte durchbrachen die unheimliche Stille, die uns umgab. Selbst die Dinge, die normalerweiseGeräusche machten – wie die zirpenden Grillen oder raschelndes Laub –, waren verstummt. Alles, was ich hörte, waren ihre Stimme und das Geräusch von Wellen, die sanft ans Boot schlugen. Es war, als wären wir die einzigen Lebewesen in der gesamten Stadt.
    Ich war zu ausgelaugt, um mich zu bewegen, doch ich sehnte mich so sehr danach, sie zu berühren, wie sie da auf der anderen Seite des Boots saß. Ihr zu zeigen, dass ich noch hier war, auch wenn es nicht mehr für lange wäre.
    „Doch, das ist es. Die ganze Zeit war es Calliope, und ich hab es einfach nicht gesehen. Ich hätte …“
    „Es gab viele andere, die sie schon wesentlich länger kannten als du“, widersprach mir meine Mutter. „Wenn überhaupt, hätten sie es erkennen sollen, nicht du. Du kannst dir nicht die Schuld an etwas geben, das du unmöglich hättest wissen können.“
    „Aber ich hätte es wissen sollen.“ Meine Stimme war so schwach, dass ich Angst hatte, bald würde sie ganz verschwinden. „Ich wusste, dass mir jemand was tun wollte, und ich hätte versuchen sollen, herauszufinden, wer das war. Aber ich hab mir solche Sorgen um Henry gemacht, und ich dachte … ich dachte, wenn er bei mir ist, traut sich sowieso niemand an mich heran. Ich dachte, ich wäre sicher.“
    „Und das hättest du auch sein sollen.“ Auf ihren Wangen glitzerte das Mondlicht – sie weinte. „Ich hätte mehr tun sollen.“
    Ich zögerte.
    „Was meinst du damit?“
    Statt mir zu antworten, erhob sie sich und durchquerte das Boot, brachte es ins Schwanken. Ich packte die Ränder, so fest es ging, doch zu ertrinken war meine geringste Sorge. Wenn ich nicht bereits tot war, würde ich es bald sein. Meine Mom setzte sich neben mich und schloss mich in die Arme, und mit letzter Kraft wahrte ich die Fassung. Eine von uns musste stark sein.
    Ich weiß nicht, wie lange wir so dasaßen und dem leichten Auf und Ab des Boots im Wasser lauschten. Es hätten Minuten oder Stunden sein können – die Zeit schien an diesem Ort stillzustehen,und die Umarmung meiner Mutter war der einzige Schutz gegen die kühle Nachtluft, den ich brauchte. In meiner Erinnerung ging ich noch einmal durch, was am Fluss geschehen war. Wie Calliope im einen Moment meine Freundin und im nächsten meine Mör-derin gewesen war. Wie hatte ich das übersehen können? Doch rückblickend betrachtet – was hätte es da zu sehen gegeben?
    „Warum, glaubst du, hat sie’s getan?“, murmelte ich an der Schulter meiner Mutter. „Sie hat gesagt, sie würde Henry lieben, aber warum musste sie dann alle umbringen? Wenn sie doch sein Leben damit genauso aufs Spiel gesetzt hat?“
    Sie strich mir durchs Haar. Ich war mir sicher, sie wollte mich trösten, doch es führte mir nur wieder vor Augen, was ich im Begriff war zu verlieren. Was wir beide verloren. Ich hatte sie ebenso sehr enttäuscht wie Henry, aber wenigstens vergab sie mir. Ich wünschte, ich könnte dasselbe tun.
    „Was denkst du?“, fragte sie sanft, und ich zuckte mit den Schultern.
    „Ich weiß es nicht.“ Ich ließ meine Gedanken von Calliope über Henry zu Ava wandern, die so verzweifelt nach Liebe gesucht hatte. „Vielleicht war sie genauso einsam wie er. Vielleicht hat sie geglaubt, sie könnte ihn retten. Aber wenn sie ihn wirklich geliebt hat, wie konnte sie seine Existenz derart aufs

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