Das göttliche Mädchen - Carter, A: Das göttliche Mädchen
gewöhnten sich meine Augen an die Helligkeit. Diesmal hatte mein Keuchen nichts mit meinen Schmerzen zu tun.
Ich war in meinem Zimmer auf Eden Manor, umringt vonvertrauten Gesichtern. Ava und Ella, Sofia und Nicholas, sogar Walter war da, und sie alle sahen zutiefst besorgt aus. Und aus dem Augenwinkel sah ich ihn – Henry.
Mein Herz setzte einen Schlag aus, doch ich war viel zu verwirrt, um mich zu fragen, warum es überhaupt noch schlug. Das hier war nicht der Central Park.
„Bin ich tot?“
Zumindest hatte ich das fragen wollen. Was herauskam, war mehr ein Krächzen, und mir brannte die Kehle – aber was spielte das für eine Rolle? Henry war da.
Er verzog das Gesicht, und ich bekam ein beklommenes Gefühl in der Magengegend. Ich war tot, oder? Er konnte mir kaum in die Augen sehen.
„Nein“, antwortete er und starrte auf seine Hände. Sanft hielt er meine darin fest. „Du bist am Leben.“
Ich schaffte es, mich zu fühlen, als würde mir das Herz gleichzeitig in die Hose rutschen und aus der Brust fliegen. Das bedeutete, dass es noch nicht vorbei war, dass wir es immer noch schaffen konnten, dass ich immer noch bestehen könnte …
Doch dann erinnerte ich mich an die letzten Worte meiner Mutter, und ich begriff, was sie gemeint hatte. Nicht für mich war es an der Zeit gewesen, zu gehen, sondern für sie. Entsetzen erfüllte mich, und ich konnte meine Tränen nicht länger zurückhalten. Ich war einfach zu erschöpft. Mühsam versuchte ich mich aufzusetzen, doch die Schmerzen in meiner Brust waren die reinste Folter.
„Lieg still“, befahl Walter streng und hielt mir eine Tasse mit warmer Flüssigkeit an die Lippen. Ich trank die süße Medizin, und immer noch strömten mir die Tränen über die Wangen.
Alle beobachteten mich wachsam, doch nicht eine Sekunde wandte ich den Blick von Henry. Ich war zu erschüttert, um mich zu schämen.
„Henry?“ Als die Medizin zu wirken begann, nuschelte ich. „Warum …“ Ich konnte meine Frage nicht zu Ende bringen. Erschöpft kämpfte ich gegen den Drang an, die Augen zu schließen,versuchte, mit den Zehen zu wackeln, um mich wach zu halten, doch selbst das schmerzte.
„Schlaf jetzt“, forderte er mich auf. „Ich werde da sein, wenn du aufwachst.“
Ohne eine andere Wahl zu haben, ließ ich mich davontreiben, während ich mich an seine Worte klammerte und hoffte, dass er die Wahrheit gesagt hatte.
In jener Nacht träumte ich nicht von meiner Mutter, und ich wusste, dass das nie wieder geschehen würde. Stattdessen waren die Stunden erfüllt von Albträumen, mit Bildern von Wasser und Messern und Strömen von Blut, und wie laut ich auch schrie, ich konnte nicht aufwachen. Diese Träume waren anders als diejenigen vor meinem Einzug auf Eden Manor – damals waren es Drohungen gewesen, Warnungen. Dies waren Erinnerungen.
Nach einer gefühlten Ewigkeit wachte ich auf. Abrupt öffnete ich die Augen. Mein Körper schmerzte immer noch, und die von den Albträumen verkrampften Muskeln machten es nicht unbedingt besser. Ich hatte Licht erwartet, doch einige Sekunden lang sah ich nichts als Dunkelheit. Als meine Augen sich langsam darauf einstellten, bemerkte ich Henry.
Er hatte sich einen Sessel ans Bett gezogen, und obwohl die anderen drei Vorhänge zugezogen waren, hatte er auf der vierten Seite genug Platz gelassen, dass ich ihn sehen konnte. Er hielt immer noch meine Hand.
„Guten Morgen.“ Aus seinem Ton klang eine Distanziertheit, die ich nicht verstand.
„Morgen?“, murmelte ich und versuchte meinen Kopf zum Fenster zu drehen, aber die Vorhänge waren geschlossen. Henry fuhr mit der Hand über eine Kerze auf dem Nachttisch, und der Docht fing Feuer. Es war nicht besonders hell, doch für mich war es genug.
„Sehr früh am Morgen. Es ist noch dunkel draußen.“ Er zö-gerte. „Wie geht es dir?“
Gute Frage. Ich dachte einen Moment lang darüber nach undstellte überrascht fest, dass die Schmerzen nachgelassen hatten. Doch das hatte er nicht gemeint, und das wussten wir beide.
„Sie ist fort, oder?“
„Sie hat darum gebeten, deinen Platz einnehmen zu dürfen, und ich habe es gestattet.“ Regungslos hielt er den Blick auf unsere Hände gerichtet. „Es war der einzige Weg, wie ich dich aus der Unterwelt zurückholen konnte. Leben gegen Leben – nicht einmal ich kann die Gesetze der Toten brechen.“
Seine Worte trafen mich hart, und ich befeuchtete mir die trockenen Lippen.
„Sie hat ihr Leben für mich
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