Das göttliche Mädchen - Carter, A: Das göttliche Mädchen
ein alles betäubender Schmerz.
Er hatte gesagt, er würde mich irgendwann lieben, und ich glaubte ihm. Doch es würde niemals auf die Art sein, nach der ich mich sehnte. Ich wusste nicht, wann der Entschluss gefallen war, dass ich mehr wollte – vielleicht als ich ihn Weihnachten geküsst hatte oder als ich Ava zum zweiten Mal verloren hatte und den Gedanken nicht ertragen konnte, noch jemanden zu verlieren. Ich wusste nur, dass es so war. Doch das war etwas, das er mir niemals geben konnte.
Der größte Teil des Februars verstrich mit immer denselben gleichförmigen Tagesabläufen. Ich nahm meine Mahlzeiten allein ein, und fast jeden Tag hatte ich Unterricht bei Irene. Nach dieser ersten Prüfung hatte sie mir nie wieder einen Test vorgelegt. Ich wusste jedoch nicht, ob sie das sowieso nicht vorgehabt hatte oder ob Henry sie darum gebeten hatte.
Das Einzige, das nicht monoton verlief, war meine Zeit mit Henry. Unsere Aussprache in der Unterwelt war ein Wendepunkt in unserer Beziehung gewesen. Doch obwohl die Abende mit ihm immer noch der beste Teil meines Tages waren, spürte ich nun unter allem einen Schmerz, für den ich keine Rechtfertigung hatte. Henry hatte dargelegt, was er sich wünschte, und ich wusste, das musste ich respektieren. Ich konnte ihn nicht haben, doch mit jedem Abend, der verging, spürte ich, wie ich mich immer mehr in ihn verliebte. In einer unaufhaltsamen Abwärtsspirale bewegte ich mich auf einen Punkt zu, an dem Liebe schließlich gleichbedeutend mit Qual war.
Jeder Blick, jede Berührung, jedes Mal, wenn er mich mit den Lippen streifte, so unschuldig es auch war – wie konnte er da sagen, er wollte nur Freundschaft, wenn er mich wie eine Partnerinbehandelte? Wenn er wollte, dass ich seine Frau wurde? Ich verstand es nicht, und je mehr Zeit verging, desto verwirrter wurde ich. Ich wusste nicht, wie sich diese Art von Liebe normalerweise anfühlen sollte. Doch während das Ende des Winters näherrückte, fühlte ich mich ihm enger verbunden als jemals zuvor einem Menschen – mit Ausnahme meiner Mutter. Es schmerzte, wenn ich von ihm getrennt war. Gleichzeitig war es manchmal, wenn er von seinem Leben vor mir erzählte, seinem Leben mit Persephone, pure Qual, mit ihm zusammen zu sein. Und doch war unsere Freundschaft so eng, dass sie sich wie das Natürlichste auf der Welt anfühlte. Mit niemandem hätte ich meine Zeit lieber verbracht, egal, wie weh es tat.
Schließlich, obwohl noch so viele Prüfungen ausstanden, wurde es März. Der letzte Monat, den ich auf Eden Manor verbringen sollte. Einerseits verspürte ich vorsichtige Vorfreude darauf, gehen und die Welt neu entdecken zu können, andererseits wusste ich, was auf mich wartete, wenn ich ging. Mit Glück würde ich einen letzten Tag haben, an dem ich am Bett meiner Mutter sitzen und mit ihr reden konnte – ob sie mich nun zu hören vermochte oder nicht. Dann, wenn ich mich verabschiedet hatte, würde sie sterben. Ich begann mich auf diese Tatsache vorzubereiten, obwohl meine Schwierigkeiten damit so groß wie eh und je waren. Wie sollte ich ihr jemals Lebewohl sagen?
Kurz nach Anbruch des Monats traf sich Henry mit dem Rat. Ich durfte nicht mitgehen – wollte es auch gar nicht, wollte James nicht gegenübertreten – und vertrieb mir die Zeit, indem ich in dem grün-goldenen Wohnzimmer mit Pogo spielte, wäh-rend Henry fort war. Ich hatte den Verdacht, dass es um meine Prüfungen ging und darum, wie sie in den Monaten nach Weihnachten scheinbar aufgehört hatten. Doch ich hatte Henry nicht danach gefragt, als er gegangen war. Das Einzige, was ich noch sicher wusste, war, dass es kein anderes Mädchen so weit geschafft hatte wie ich. Mit jedem verstreichenden Tag wuchs die Gefahr. Wenn es doch nicht James gewesen war, der all diese Mädchen umgebracht hatte – und so wütend ich auch auf ihn war, weigerteich mich doch zu glauben, er wäre zu so etwas fähig –, dann lief der Mörder noch immer frei herum. Wartete nur auf den richtigen Moment, um erneut zuzuschlagen.
„Glaubst du, er wird noch größer?“, fragte Calliope, während wir auf Henrys Rückkehr warteten, und kraulte Pogos rosafarbenen Bauch. Die Zunge hing ihm seitlich aus dem Mund, und er schien das Leben in vollen Zügen zu genießen.
„Ich wage es zu bezweifeln. In letzter Zeit ist er nicht mehr viel gewachsen.“
„Nimmst du ihn mit, wenn du gehst?“
Ich zuckte mit den Schultern. „Vielleicht. Ich hab mich noch nicht entschieden. Hier würde
Weitere Kostenlose Bücher