Das Grauen lauert in der Tiefe

die Inhaftierten und den dicken Gefängniswärter, der Max in die Zahnarztpraxis gebracht hatte. Der Wärter wollte sich gerade ein großes Schinken-Käse-Sandwich schmecken lassen, als Max den Überwachungsraum betrat.
    »Den Schlüssel zu den Zellen bitte«, sagte er zu dem Wärter und stellte fest, dass der Psychonautenanzug aus seiner freundlichen Jungenstimme ein boshaftes, tiefes Dröhnen machte. Er riss dem Gefängniswärter den Schlüssel aus der zitternden Hand und wünschte ihm einen schönen Feierabend.
    Nachdem der Mann geflohen war, stellte Max den Anzug aus und nahm den Teller mit dem Sandwich und den Belegungsplan der Zellen, der auf dem Schreibtisch lag. Mafaldas Gefängnis war gleich gegenüber.

»Bruderherz!«, rief Mafalda. »Dich schickt der Himmel.«
    Bevor er etwas sagen konnte, hatte sie ihm das Sandwich aus der Hand gerissen und hineingebissen.
    »Woher wusstest du, dass ich es bin?«, fragte Maxwell verwundert und nahm den Helm des Psychonautenanzugs ab.
    »Geschwisterliche Intuition«, nuschelte Mafalda mit vollem Mund. »Es passt zu dir, mit so einem Gruselanzug den Laden aufzumischen. Mama hätte es auch sein können, aber die hätte mir nichts zu essen mitgebracht.«
    Max seufzte. »Könnte ich bitte die Hälfte abhaben?«
    »Zu spät«, sagte sie und stopfte sich den Rest in den Mund, wobei eine größere Portion Mayonnaise auf das Jackett ihrer Schuluniform tropfte.
    Mafalda leckte sich die Finger ab und folgte ihrem Bruder, der bereits wieder in den Flur des Gefängnistrakts gestapft war. Dort fiel Maxwell zum ersten Mal die dunkelgrüne Wandfarbe auf, die eine deprimierende Stimmung verbreitete. Und es war auch bestimmt kein Zufall, dass die elektrischen Lampen, die von der Decke baumelten, mit dicken Schirmen aus Filz versehen waren, damit sie ein trübes und kümmerliches Licht abgaben. Mr Kolschok schien in jeder Hinsicht darauf bedacht zu sein, die Gefangenen nicht gerade zuvorkommend zu behandeln.
    »Sollen wir jetzt alle Zellentüren öffnen?«, überlegte Max und hielt inne. Eigentlich konnte man wohl davon ausgehen, dass die hier Inhaftierten einfach nur Menschen waren, die Kolschok auf irgendeine Art und Weise gestört hatten – aber ganz sicher war er sich da nun doch wieder nicht.
    »Erst einmal Mama, Papa und Tom und seine Familie«, sagte Mafalda und riss Maxwell den Zellenplan aus der Hand.
    »Unsere Eltern sitzen hier!«, verkündete sie nach einer Weile und winkte ihn zum Ende des Gangs. Er stapfte dorthin und öffnete die Tür.
    »Wie seht ihr denn aus?« Ihre Mutter riss entsetzt die Augen auf. »Von oben bis unten bekleckert und unpassend gekleidet.«
    »Ich hatte seit Ewigkeiten nichts zu essen«, rechtfertigte sich Mafalda.
    »Und ich hätte euch ohne diesen Anzug nicht befreien können«, entschuldigte sich Max.
    »Die Stadt muss sofort evakuiert werden«, forderte sein Vater, ohne sich weiter um die näheren Umstände seiner Rettung zu kümmern. »Ich habe in den letzten Stunden hart gearbeitet und Dr. Baldurixis Tagebuch übersetzt. Es ist in einer Geheimschrift verfasst, aber sein Abschiedsbrief enthielt zum Glück eine versteckte Anweisung, wie man die Geheimschrift mithilfe des Eucalypticons entziffern kann. Es sieht ganz so aus, als hätte der gute Baldurixi die Kollegen Hardenberg, Sayvers und Sinclair hereingelegt. Die enorme Energiegewinnung im Altstain-Kraftwerk ist nämlich nur das Nebenprodukt einer homunkuloiden Reaktion, die sich …«
    »Einer was?«, fragte Max.
    »Einer
ho-mun-ku-lo-i-den
Reaktion«, wiederholte sein Vater betont laut und deutlich. »Und sie ist außer Kontrolle geraten, da bin ich mir ziemlich sicher. Deshalb auch die Explosion.«
    »Ich glaube, Maxwells Frage war eher inhaltlicher Natur, Liebling.« Mrs Fox versuchte, mit einem Taschentuch die Flecken von Mafaldas Jackett zu reiben.
    »Ach so, ja natürlich«, sagte Mr Fox. »Eine homunkuloide Reaktion ist das Ziel vieler Okkultisten. Sie wird in dem Eucalypticon genau beschrieben. Dabei wird versucht, in einem Reagenzglas oder einem Zylinder eine Urzeugung herbeizuführen, also ein Wesen zu schaffen, das weder Mutter noch Vater hat, im biologischen Sinne.«
    »Ich finde nicht, dass du das noch genauer erklären musst«, sagte Mrs Fox.
    »Nun ja«, räusperte sich Professor Fox. »Das Besondere an dem Experiment, das hier unten durchgeführt wird, ist die Größe. Ich vermute, Baldurixi hat in der Tiefseespalte ein Wesen von geradezu gigantischen Ausmaßen gezüchtet. Er