Das grobmaschige Netz - Roman
war am 1. Juni, an einem Samstag. Wir waren zu Molnar eingeladen, einem Kollegen von mir, er und seine Frau haben ein Haus oben bei den Maaren. Wir wollten dort auch übernachten. Als wir uns zum Essen hinsetzten, stellten wir fest, dass Willie verschwunden war. Er war gerade vier geworden... Molnars haben zwei Kinder, die etwas älter sind, alle hatten zusammen im Garten gespielt. Willie hatte gesagt, er müsse zur Toilette ... wir haben ihn erst am Sonntagvormittag gefunden. Fischer haben ihn in einer Bucht entdeckt ... die Strömung hatte ihn fast drei Kilometer mitgenommen.«
Er verstummte und steckte sich eine Zigarette an.
»Wie weit war es bis zum See?«
»Nur hundert Meter. Wir hatten früher an diesem Tag gebadet, aber Willie wusste, dass er nicht allein ans Wasser gehen durfte.«
»Ist die Unfallursache festgestellt worden?«
»Ja, aber viel war dazu nicht zu sagen. Vermutlich war Willie auf den Steg gegangen und dann ins Wasser gefallen. Er war vollständig angezogen, er hatte also nicht auf eigene Faust baden wollen ... Müssen wir darüber wirklich noch einmal sprechen? Ich habe das doch alles schon Ihrem Kollegen erzählt ... Münster hieß er, nicht wahr?«
Van Veeteren nickte.
»Evas Reaktion... könnten Sie mir die beschreiben? Ich verstehe ja, dass Sie das nicht gerade lustig finden, aber ich bin auf der Suche nach einem Mörder, Herr Berger. Irgendwer hat Eva Ringmar ermordet, irgendwer hat ihren neuen Mann, Janek Mitter, umgebracht ... es muss einen Grund dafür geben. Leider müssen wir alle möglichen Anhaltspunkte verfolgen.«
»Ich verstehe. Ich hoffe, Sie können begreifen, was für ein
Trauma es ist, ein Kind zu verlieren. Dass erwachsene Menschen sterben, lässt sich ja noch akzeptieren, auch wenn es plötzlich und unerwartet geschieht, aber wenn ein kleiner Junge von nur vier Jahren ... weggerissen wird ... ja, dann kann es den Anschein haben, als habe alles ... wirklich alles ... seine Bedeutung verloren. Und dann muss jede Reaktion als normal betrachtet werden.«
»Eva hat es sehr schwer genommen?«
Berger nickte.
»Ja.«
Sie schwiegen. Berger schenkte sich einen daumenbreiten Whisky ein.
»Möchten Sie noch?«
Van Veeteren schüttelte den Kopf. Berger stocherte mit der Zange im Eisbehälter herum, erwischte aber nichts. Er legte die Zange auf den Tisch und versuchte es mit den Fingern. Ließ drei oder vier halb geschmolzene Eisstücke in sein Glas fallen und leckte sich die Finger ab.
Wo bleibt seine Erziehung?, dachte Van Veeteren.
»Eva, ja ...«, sagte Berger dann. »Sie hat ganz einfach die Kontrolle verloren, so kann man das wohl sagen.«
»Wie?«
»Wie? Sie wurde hysterisch, restlos wahnsinnig. Es war unmöglich, ihr gut zuzureden oder ein vernünftiges Wort aus ihr herauszuholen. Sie wollte sich umbringen, wir mussten sie rund um die Uhr bewachen. Und sie musste Beruhigungsmittel nehmen, das ist ja klar.«
»Wie lange ist das so gegangen?«
»Den ganzen Sommer über. Es war ... es war die reine Hölle, Herr Kommissar. Ich hatte einfach keine Möglichkeit, selber zu trauern, ich brauchte all meine Kraft, um Eva am Leben zu erhalten. Weil ich der Stärkere war, musste ich die ganze Last tragen. Aber so ist das nun einmal ...«
Er lachte auf.
»1986 ist kein Jahr, das ich noch einmal erleben möchte, Herr Kommissar. In diesem Jahr ist alles passiert, ich hätte vielleicht zu einem Astrologen gehen und die Sterne befragen sollen. Die müssen entsetzliche Konstellationen gebildet haben!«
»War Eva zu Hause oder im Krankenhaus?«
»Beides ... anfangs war sie vor allem im Krankenhaus. Sie musste doch die ganze Zeit überwacht werden ... ich war auch fast immer dort. Dann habe ich sie nach und nach immer häufiger nach Hause geholt, aber ich habe mich nicht getraut, sie allein zu lassen. Ich habe erst im Oktober wieder angefangen zu arbeiten.«
»Aber ihr Zustand hat sich gebessert?«
»Ja, als der Sommer vorbei war, wusste ich zumindest, dass sie sich nicht mehr umbringen wollte.«
»Haben Sie über den Unfall gesprochen?«
»Nie. Ich habe es natürlich versucht, aber es war unmöglich. Wir haben Willie nie erwähnt, sie hat mich gezwungen, alles wegzuwerfen, was ihm gehört hatte ... ein wenig habe ich dann versteckt. Es war so, als ob es ihn nie gegeben hätte, als ob sie sogar die Erinnerungen an ihn ausmerzen wollte.«
»Fotos?«
»Dasselbe ... ich habe meine Bilder einem guten Freund anvertraut.«
»Fanden Sie ihre Reaktion nicht
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