Das große Los: Wie ich bei Günther Jauch eine halbe Million gewann und einfach losfuhr (German Edition)
verkaufen undefinierbares Grünzeug auf einer Plane knapp unterhalb der Auspuffe– unmöglich, all das aufzunehmen, abzuspeichern, in die zuständigen Hirnregionen einzusortieren. Erst mal zugucken, zuhören, Witterung aufnehmen. Verstehen kommt später, wenn überhaupt. Das wäre vermutlich schon mal die erste wichtige Lektion für mich, die ewige Verstehenwollerin.
Die zweite folgt am Nachmittag, als ich, wie immer an einem neuen Ort, in konzentrischen Kreisen um mein Zuhause spazierte: Ich bin ein Alien. Hier geht kein Westler außer mir zu Fuß. Ich werde angestarrt, als ob ich irgendwo entsprungen wäre. Gehen ist für Arme, die sich nichts anderes leisten können. Zum Vergnügen spazieren gehen, mir die Stadt erlaufen, wie ich das bisher immer gemacht habe: gehört sich nicht.
Du weißt ja: So was macht mich nur bockig. Jetzt erst recht, pah. Am nächsten Tag, einem Samstag, fuhr ich mit der S-Bahn ins Zentrum. Während der Rushhour muss sie unerträglich voll sein, immer wieder kommt es zu Unfällen, weil Leute aus den überfüllten Wagen fallen, Türen gibt es keine. Doch Samstag um die Mittagszeit: kein Problem. Ich wollte schlau sein und habe gleich zehn Tickets gekauft– schön blöd, denn auf Vorrat geht hier in Indien schon mal gar nichts. Eine Fahrkarte ist eine Stunde gültig, dann verfällt sie. Der Schaden hält sich allerdings in Grenzen: Ein Ticket kostet 4Rupien, 6Cent. 6Cent! Es gibt eigene Wagen nur für Frauen, die man aber nicht nehmen muss, es ist nicht Verbannung, sondern Schutz. All das erklärte mir ein netter Herr auf der Sitzbank gegenüber, als ich bemerkte, dass ich mal wieder die einzige Westlerin hier war. Offensichtlich wird erwartet, dass Europäer und erst recht Frauen 1. Klasse reisen. Okay, beim nächsten Mal. Vielleicht.
Endstation Churchgate ausgestiegen, einfach losgegangen ohne Stadtplan. Gegenüber der Station liegt ein Cricketfeld, dahinter mehrere alte Gebäude: der dem Big Ben nachempfundene Rajabai Tower und der Oberste Gerichtshof, bewacht von Maschinengewehrsoldaten, die auf der Straße regelrechte Schützenstände aufgebaut haben. Fotografieren der Gebäude ist verboten, ich wurde mit knappem Gewehrwinken vertrieben. Weiter die Straße hinunter, irgendwo hier muss das Meer kommen.
Kam aber nicht. Stattdessen erst Trümmergeröll vor toten Häusern, dann der Slum von Colaba. Ich bin nicht durchgegangen, ich habe mich nicht getraut und ich hätt’s auch nicht gekonnt. Noch nie zuvor habe ich meine Neugier unanständig gefunden, ich gehe immer überall rein und gucke und frage, Du kennst mich. Hier: unmöglich. Mit welcher Berechtigung hätte ich dort durchwandern dürfen? Nur um mal zu gucken, wie groß genau das Elend ist? Wie erbärmlich die Leute hausen? Es ging einfach nicht. Es reichte auch so. Genau gegenüber lagen Apartmenthäuser mit Namen wie Lovely Home , gut in Schuss, mit teuren Wagen vor der Tür. Auf meiner Straßenseite, der Slumseite, parkte ungerührt ein schwarzer Mercedes mit getönten Scheiben neben einem bestialisch stinkenden Müllcontainer ein, den ein Slumbewohner gerade nach ein paar Essensresten durchwühlte.
Im Four Seasons dachte ich noch, es gäbe ein Oben und Unten. Jetzt sehe ich, dass es nur ein Nebeneinander gibt. Die Welten kollidieren geräuschlos. Nein, sie koexistieren. Und es ist nur mein westlicher Blick, gewohnt daran, dass die Gegensätze hübsch sauber in unterschiedliche Kisten sortiert werden, der das so unfassbar findet.
Nach ein paar Tagen wurde es besser. Ich habe mich gewöhnt, ich habe mich ergeben. Ich habe gelernt, nicht auf die Arme von Kindern zu treten, die auf dem Bürgersteig schlafen, oder über Schuster und Handyreparierer zu stolpern, die ihre Werkstätten jeden Morgen auf einer Plastikplane auf dem Bürgersteig eröffnen. Ich habe gelernt, im Windschatten anderer die Straße am Nana Chowk zu überqueren, im Strom einer Masse, die sich todesmutig zwischen die rollenden Autos gießt. Irgendwann werde ich auch lernen, angestarrt, angebettelt, angefasst zu werden. Ich habe mir den Rat einer Blogkommentatorin zu Herzen genommen: » Es funktioniert nur, wenn man einfach ›mitfließt‹ und nicht permanent versucht, alles, was einem dort begegnet, zu verstehen oder einzuordnen.« Eine andere schrieb: » Reisen heißt auch: die und das Fremde aushalten.«
So ist es. Was aber weit anstrengender ist: auszuhalten, wie man sich selbst allmählich fremd wird. Ich bin hier eine andere, und zwar eine, die ich
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