Das große Los: Wie ich bei Günther Jauch eine halbe Million gewann und einfach losfuhr (German Edition)
ein Rorschach-Test. Ich sehe das Bekannte im Unbekannten, weil ich gar nichts anderes sehen kann. Ich sehe, was meiner Wahrnehmungsfähigkeit entspricht und was ich sehen will, weil ich mir vom Fremden eine Bestätigung oder eine Bereicherung meines Weltbilds verspreche. Aber wie du in die Welt hineinschaust, schaut sie zurück. Und bisher winkt mir alles um mich herum freundlich zu und sagt: Schön, dass du da bist.
Und noch eine Sache, die mich hier draußen zutiefst rührt: die Freundlichkeit von Fremden. Denn ich schreibe Dir dies nicht aus meiner eigentlichen Wohnung, ich bin innerhalb der Stadt noch mal für ein paar Tage umgezogen. Vor zwei Wochen bekam ich nämlich diese Mail von einem Leser:
»Sehr geehrte Frau Winnemuth,
ich bin in Buenos Aires geboren und habe dort meine Kindheit verbracht– eine Stadt, die ich liebe und die mir immer wieder Spaß macht, wenn ich sie besuche. Ich lebe seit 1985 in Deutschland.
Ich möchte Sie ganz herzlich einladen, für eine Woche in unserem Apartment in San Telmo zu wohnen. Die Einladung ist wirklich frei von irgendeiner Gegenleistung, Sie sollen weder drüber schreiben noch es irgendwo erwähnen, wir werden es auch nicht machen.
Ein Hintergedanke ist aber selbstverständlich dabei: Ich möchte, dass Sie San Telmo eine Woche lang so erleben, wie San Telmo wirklich ist, ohne Klischees, ohne den Druck, dahin fahren zu müssen, einfach sich mit den Menschen dort wohl fühlen und sie kennenlernen. Von San Telmo ist viel geschrieben worden und es steht in jedem Reiseführer, aber dort zu wohnen ist noch mal etw as anderes . Die Menschen dort sind sehr freundlich und hilfsbereit.
Ich würde mich freuen, wenn Sie mein Angebot annehmen.
Beste Grüße, Andrès Semsey«
Unglaublich, oder? Unglaublich nett, und deshalb habe ich das Angebot auch angenommen. Auf San Telmo, den ältesten Stadtteil von Buenos Aires, war ich sowieso neugierig, ich hatte es bislang noch nicht so richtig dorthin geschafft. Was für ein Geschenk also, mittendrin wohnen zu dürfen.
Die Wohnung entpuppte sich als kleines Apartment mit einer Wendeltreppe in die obere Etage, in der Schlafzimmer und Bad liegen, und einem schmalen Balkon mit gusseisernem Gitter hinaus auf die ruhige Pasaje Giuffra. Das Schönste aber ist das Haus selbst: um einen verwunschenen Innenhof herum gebaut, auf dessen warmen Steinen Katzen dösen.
Abends und am Sonntag, wenn der große Antiquitätenmarkt stattfindet, wird San Telmo zu einer Art Tango-Disneyworld, tagsüber und unter der Woche ist es ein verschlafenes kleines Kopfsteinpflaster-Idyll. Die Stadt kommt hier wirklich zum Stillstand. Im Mercado kann man Rinderzunge und Perlmuttknöpfe kaufen, im Fenster der Bar Sur hängt ein vergilbtes Foto, das den Besitzer stolz mit » Frank Beckembaüer« zeigt (und mit Liza Minnelli, die übrigens in jedem Fenster der Stadt hängt, die hat hier wirklich nichts ausgelassen). Im Eckcafé La Poesìa, in das ich jeden Tag mit meinem Laptop ziehe, sitze ich immer an einem Fenstertisch mit einer verkratzten Messingplakette, fast nicht mehr zu entziffern: » An diesem Tisch hat der Dichter Horacio Ferrer 1982 Lucia Michelli kennengelernt. El mismo amor los une desde entonces«, steht da: Seit damals vereint sie die gleiche Liebe. Wie wunderschön. Wenn ich noch dazu komme, versuche ich die beiden mal aufzutreiben.
Aber die Zeit wird langsam knapp, nächste Woche fliege ich schon weiter nach Mumbai. Mir ist etwas flau bei dem Gedanken, ehrlich gesagt. Die ersten beiden Monate habe ich in nahezu heimischer Umgebung verbracht. Auch wenn ich noch nie zuvor in Buenos Aires war: Die Stadt habe ich auf Anhieb wiedererkannt, das war wie eine Heimkehr. Eine Heimkehr in ein gefühltes Europa zumindest, das mir hier draußen in der Welt plötzlich tatsächlich wie die Einheit erscheint, die man uns immer einzureden versucht und die ich in den engen Grenzen Deutschlands nie spüre. Mumbai dagegen und danach Tokyo und Shanghai, das sind Städte für Fortgeschrittene. Moloche. Da kann man auch emotional leicht mal verloren gehen.
Vielleicht wollte ich mir deshalb eine Erinnerung zum Anfassen und Festhalten in den Koffer packen: In einem der Antiquitätengeschäfte von San Telmo habe ich ganz hinten links in einer Ecke eine einsame kleine versilberte Teekanne mit der Gravur » Pension Callao« entdeckt. Und weil ich doch diesen Monat so glücklich in meinem Palast in der Avenida Callao verbracht habe, musste ich einfach… klar, oder?
Mein
Weitere Kostenlose Bücher