Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das große Los

Das große Los

Titel: Das große Los Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
Vom Netzwerk:
aufgerissen hatte und der Lärm des morgendlichen Paris in die Wohnung geschwallt war. Da hatte sie noch kaum auf ihn geachtet. Die Wohnung lag ziemlich nah an der Place Maubert, und jeden Morgen kamen Clochards, die mit dem Kopf auf einem Bistrotischchen gepennt hatten, die Seineluft zu schnuppern. Sie kannte fast alle vom Sehen. Darunter auch welche, mit denen Justin Duclos zu tun gehabt hatte, als er noch die Sonderbrigade der Kriminalpolizei leitete, und deren Lebensgeschichten er ihr erzählt hatte.
    Die meisten hatten allerdings keine kriminelle Vergangenheit. Es waren Leute, die eines schönen Tages die Flinte ins Korn geworfen hatten, wie Duclos gern sagte, und die trotz ihrer äußeren Erscheinung harmlos waren.
    Um zehn war Madame Arnaud wieder in ihre Loge hinuntergestiegen, der Bouquinist von gegenüber hatte zu dem ehemaligen Kommissar heraufgegrüßt, der am Fenster saß und seine erste Pfeife rauchte.
    Eines Nachmittags, als Lili heimkam und er auf dem gewohnten Beobachtungsposten saß, hatte sie einen Pariser Gassenjungen auf den Alten deuten sehen und einem anderen zuschreien hören:
    »Guck mal den Krüppel mit der Holzbirne!«
    Sie war nicht wütend geworden und hatte sogar lächeln müssen, denn obwohl man unten vom Trottoir aus nur Duclos’ Kopf sah, erriet man doch, daß er gelähmt war. Die Kugel, die ihm damals ins Rückgrat gedrungen war, hatte ihm nicht nur die Beine lahmgelegt, sondern seinen ganzen Körper versteifen lassen, besonders den Nacken. Auch sein Gesicht wirkte wie versteinert, und in seiner Miene konnte man nur noch ganz aus der Nähe lesen.
    Lili hatte sich in den sieben Jahren schon so daran gewöhnt, daß es ihr nicht mehr auffiel, und erst bei dem Ausruf des Gassenjungen hatte sie ihn kurz so gesehen wie die anderen.
    Als sie kurz vor zehn das Schlafzimmer aufräumen ging, sah sie erneut den Mann auf dem Quai stehen und runzelte die Stirn, denn er schien zu den Fenstern heraufzublicken. Sie sah sofort, daß er kein Clochard war wie die anderen. Er mochte zwar in den Kleidern geschlafen haben, doch waren diese immer noch irgendwie etwas Besseres. Vor allem sein Gesicht wirkte anders. Er blickte nicht so leer und resigniert wie die, denen es nur noch um die nächste Pulle Roten und einen Winkel zum Pennen ging.
    Sie bekam fast Angst, denn es lag etwas Sehnsüchtiges und Tragisches in seinen wasserhellen Augen.
    »Wer ist denn das?« hätte sie ihren Adoptivvater beinahe gefragt.
    Sie wußte, daß er solche Fragen nicht ausstehen konnte. Er hatte den Mann auch gesehen, da war sie sicher. Sie hätte sogar geschworen, daß er ihn recht gut kannte und der Stadtstreicher seinetwegen dort unten vor den Bouquinisten auf und ab ging. Bisweilen blieb er stehen und tat so, als sehe er den Schiffen auf der Seine zu oder den Spatzen, die sich um Krümel stritten, blickte aber zwischendurch immer wieder kurz zu den Fenstern hoch.
    Ob er raufkommen würde? Oder doch nicht?
    Sie lächelte. Es machte ihr jedesmal Spaß, zu erraten, was in Duclos’ Kopf vorging, und sie war sicher, daß er das gleiche dachte, während er so dasaß und seine Pfeife paffte.
    Sie machte das Bett. Auch das Schlafzimmerfenster ging auf die Seine hinaus, und sie ließ den Mann auf dem Trottoir nicht mehr aus den Augen.
    Sie hätte nicht sagen können, wie alt er war. Vielleicht fünfzig, aber genausogut auch sechzig, so verbraucht wirkte er.
    Sie wurde immer neugieriger, und schließlich hoffte sie sogar, er würde den Mumm haben heraufzukommen.
    Als sie sich erneut aus dem Fenster beugte, war er weg.
    Gute zehn Minuten vergingen, bevor was zu hören war, nicht etwa die Klingel, sondern ein zaghaftes Klopfen an der Wohnungstür.
    Als dächte der Mann:
    ›Ich klopf mal leise an. Wenn sie mich hören, hat es das Schicksal gewollt, daß ich rein soll. Wenn mich keiner hört, geh’ ich wieder.‹
    Sie eilte durchs Wohnzimmer zur Tür und wußte, daß Duclos dort am Fenster ihre Hast bemerkt hatte. Da stand der Mann im Halbdunkel des Treppenabsatzes, so unentschlossen, als werde er nie den Mund aufkriegen. Am Ende stieß er doch mit leicht belegter Stimme hervor:
    »Ist der Kommissar da?«
    Das wußte er doch, er hatte ihn doch von unten gesehen. Die Antwort kam übrigens nicht von Lili, sondern von Duclos, der von hinten rief:
    »Komm rein, Camus!«
    Warum zuckte der Mann da zusammen? Hieß er gar nicht so? War er nicht darauf gefaßt, erkannt zu werden? Sie lächelte ihm aufmunternd zu, trat beiseite und sah, wie

Weitere Kostenlose Bücher