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Das große Los

Das große Los

Titel: Das große Los Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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hat was zu bedeuten.«
    »Ja.«
    »Ich bin sicher, daß Berna seine Schlüsse daraus gezogen hat.«
    Sie war beim Abräumen, als aus dem Treppenhaus der typische Schritt des dicken Chefs der Sonderbrigade zu vernehmen war.
    Diesmal machte sich Lili nicht die Mühe, aus dem Zimmer zu gehen.
    »Eine Tasse Kaffee, Monsieur Berna?«
    »Und ein Gläschen Calvados dazu, wenn es geht, meine Kleine.«
    Er ließ sich auf einen Stuhl fallen, mit gespreizten Beinen, steckte eine Zigarette an und rauchte, wobei er wie immer den Rauch durch die Nase ausstieß.
    Es dauerte ein Weilchen. Das war ein Spiel zwischen den beiden Männern. Im Grunde ging es darum, wer als erster die Geduld verlor und etwas sagte.
    Der Dicke gewann. Justin Duclos tat, als fixiere er ein Federwölkchen am blauen Himmel und fragte:
    »Wer war es?«
    »Von wem redest du?«
    »Von dem Mann im Nebenzimmer.«
    Lili hätte fast die Tasse fallen lassen, die sie in der Hand hielt, und wandte sich ruckartig zu ihrem Vater um, der so tat, als merke er nichts.
    »Jo die Glatze.«
    Diesmal wurde das junge Mädchen blaß und bekam nachträglich Butterknie. Ob sie das Zimmer im ›Pélican‹ betreten hätte, wenn sie gewußt hätte, daß nur noch eine Tür zwischen ihr und Jo die Glatze sein würde?
    Nach dem fahndete die Polizei schon seit mehr als sechs Monaten. In diesen sechs Monaten hatte er mindestens drei bewaffnete Raubüberfälle begangen, jedesmal gegen Bankkassierer, und war dabei so brutal vorgegangen, wie es für ihn typisch war. Er schoß Leute tot. Er hätte wenn nötig in eine Menschenmenge geschossen.
    Justin Duclos fragte weiter, als sei er der Antwort sicher:
    »Verletzt?«
    »Sag mal, hast du die Untersuchung geführt oder ich? Ja, er ist verletzt, ziemlich schwer sogar. Wir haben uns schon sowas gedacht, denn der letzte erschossene Kassierer hatte noch Zeit zum Abdrücken gehabt, und auf dem Trottoir war Blut gewesen. Er hat sich zu Louis geflüchtet, oder seine Komplizen haben ihn dorthin gebracht, und Louis hatte Schiß und hat sich nicht getraut, ihn zu verzinken.«
    »Und die Tänzerin?«
    »Die lebt schon seit Monaten mit ihm zusammen.«
    »Odette Lagrange hatte das Pech, was zu sehen, was sie nicht sehen sollte.«
    »Zu dem Zeitpunkt waren sie noch nicht darauf gekommen, die Zimmertür abzuschließen. Sie hat was gehört und aufgemacht. Sie hat ihn erkannt. Sein Bild war ja in allen Zeitungen.«
    »Natascha hat seine Komplizen angerufen, um sie umbringen zu lassen.«
    »Ja. Aber ich verstehe überhaupt nicht, warum Louis wieder eine Sängerin verpflichtet hat, während er den Verwundeten doch noch im Haus hatte.«
    »Sicher weil er gedacht hat, daß der ›Pélican‹ unter Verdacht käme, wenn nicht mehr alles lief wie sonst. Außerdem hat er sich wohl gesagt, wenn die Tür geschlossen bleibt …«
    »Und Jo die Glatze hat aufgestöhnt«, ergänzte Lili, wie aus einer Art Trotz.
    Und weil sie sie ansahen, setzte sie bescheiden hinzu:
    »Wenigstens stelle ich es mir so vor.«
    »Auf dein Wohl!« sagte der dicke Kommissar und führte das Glas an den Mund, das er schon eine Weile mit den Händen angewärmt hatte. »Und weißt du, wer ihnen auf die Schliche gekommen ist?«
    Kurzes Schweigen. Duclos zündete sich die Pfeife an, ohne jemand anzusehen.
    »Ein Junge, von dem ich das nicht erwartet hätte, dein Protegé, der kleine Lapointe. Im Moment ist er noch dabei, sie zu verhören. Jo die Glatze macht ihm am meisten zu schaffen. Trotzdem, wenn sie echt schlau gewesen wären …«
    Da schob Justin Duclos seinen Rollstuhl in die Sonne und sprach seinen Lieblingssatz, der am Quai des Orfèvres zum geflügelten Wort geworden war:
    »Wenn Mörder schlau wären, würden sie nicht morden. Auf dein Wohl, Émile!«
    Während er sein Glas leerte, blinzelten Duclos und Lili einander zu.
     
    Lakeville (Connecticut), 30. Januar 1952

Der Krüppel mit der Holzbirne
1
    Es passierte gegen Ende Juni in einem Jahr, wo es so heiß war, daß davon geredet wurde, allen Grundschulen bis zu den Ferien hitzefrei zu geben. Die Bäume vor den Fenstern am Quai de la Tournelle standen als reglose grüne Masse, und Tausende von Vögeln hatten sich in ihr Laubwerk geflüchtet.
    In der Wohnung war der Morgenalltag wie sonst gelaufen, Madame Arnaud, die Concierge, war heraufgekommen und hatte Lili geholfen, Justin Duclos anzuziehen und in seinen Rollstuhl zu heben.
    Wann genau war der Mann Lili zum ersten Mal aufgefallen? Wahrscheinlich gegen acht, als sie die Fenster

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