Das große Los
er den Hut auf einem Stuhl ablegte. Als er quer durchs Wohnzimmer zum Rollstuhl ging, fiel ihr auf, daß er das eine Bein nachzog.
»Setz dich«, sagte Justin Duclos.
Und der Besucher ließ sich auf einer Stuhlkante nieder.
Beide schwiegen. Lili hatte im Zimmer nichts weiter zu tun. Sie trödelte trotzdem herum, rückte ein paar Sachen. Weil aber beide beharrlich weiterschwiegen, ging sie schließlich verdrossen ins Schlafzimmer zurück, wo sie noch nicht fertig war.
Nach alter Gewohnheit ließ sie die Tür angelehnt. Vergeblich spitzte sie die Ohren, sie vernahm nicht das leiseste Flüstern, so daß sie schließlich hinging und mißgelaunt und energisch die Tür hörbar zuklinkte.
Dieses Schweigen, die Art, wie der Mann fast drei Stunden lang gezaudert hatte, bevor er raufkam, das Klopfen an der Wohnungstür, die immerhin einen Klingelzug hatte, sein Gang, sein stierer Blick und dieses Lauern der beiden machten ihr irgendwie angst.
Sie traute sich nicht, an der Tür zu horchen, doch kam sie wie zufällig immer wieder daran vorbei, und dann vernahm sie Gemurmel.
Warum redeten sie so leise?
Allerhand seltsame Leute kamen in die Wohnung am Quai de la Tournelle. In seinen vierzig Jahren bei der Kriminalpolizei, zehn davon als Chef der Sonderbrigade, hatte Justin Duclos nicht nur mit den verschiedensten Verbrechern zu tun gehabt, sondern auch mit den von den Parisern als ›Abschaum‹ Bezeichneten, die in der Großstadt unauffällig dahinvegetieren und meist nur bei Massenkrawallen in Erscheinung treten, wenn sich bestimmte Viertel plötzlich auf den großen Boulevards und den Champs-Elysées zusammenrotten.
Von diesen Leuten waren manche seine Zuträger gewesen. Einige kamen auch jetzt noch lieber zu ihm als zu seinem Nachfolger am Quai des Orfèvres.
Anderen hatte er wieder auf den rechten Weg geholfen, und die zeigten ihm immer noch ihre Dankbarkeit.
Und wieder andere hatte er verhaftet und vor Gericht gebracht, und nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis wollten sie ihn unbedingt besuchen, weil er sich ihnen gegenüber ›absolut astrein‹ verhalten und sich sogar um ›die Alte und die Blagen‹ gekümmert hatte.
Noch nie war von Lili erwartet worden, die Tür zuzumachen, damit sie ungestört reden konnten. Noch nie war es je vorgekommen, daß einer sich geschlagene drei Stunden herumgedrückt hatte, bevor er die Treppen heraufgekommen war.
Sie lächelte, als ihr einfiel, daß die Concierge bestimmt wieder mal eine Gänsehaut bekommen hatte, als der Besucher an ihrer Loge vorbeigegangen war.
Als nach einer Viertelstunde nichts mehr zu hören war, setzte sie ein harmloses Gesicht auf und öffnete die Tür. Die beiden Männer saßen einander immer noch gegenüber und schwiegen sich an, beide mit todernster Miene. Justin Duclos starrte blicklos zum Fenster hinaus, während sein Besucher angelegentlich die Zimmerdecke fixierte.
»Was gibt’s, Lili?«
»Nichts. Ich bin fertig. Kann ich jetzt einkaufen gehen?«
Warum war sie so nervös? Es war ihr so herausgerutscht. Normalerweise ging sie nicht aus der Wohnung, wenn Besuch da war, weil sie immer Angst um ihren Vater hatte.
»Merk dir endlich, daß die mir nie was antun würden!« sagte er ihr immer wieder. Und setzte ihr seine Theorie dazu auseinander: »Kriminelle legen schon mal ’nen Polizisten um, der sie verfolgt, um nicht geschnappt zu werden. Aber hinterher nie! Nie aus Rache. Im Gegenteil! So seltsam es scheint, entsteht doch häufig eine gewisse Vertrautheit, oft so was wie Sympathie zwischen einem Straftäter und dem Inspektor, der ihm in stundenlangem Verhör ein Geständnis abgerungen hat.«
War es ihm nicht mehrmals passiert, daß Mörder, die er aufs Schafott geschickt hatte, ihn darum baten, bei ihrer Hinrichtung persönlich anwesend zu sein?
Lili entgegnete regelmäßig:
»Und was ist mit dem, der am Tag deiner Pensionierung auf dich geschossen hat?«
Dann verschloß sich Duclos’ Gesicht, und er sah tatsächlich aus wie ein Krüppel mit Holzbirne.
»Das ist eine andere Geschichte.«
»Einer hat jedenfalls abgedrückt.«
In seiner langen Laufbahn hatte Duclos den Ruf erworben, die verzwicktesten Rätsel lösen zu können. Bei seinem Abschied vom Quai des Orfèvres hatte er sich zugute halten können, seinen Nachfolgern keinen ungelösten Fall zu hinterlassen.
Die Kollegen hatten ihm zu Ehren im Chefbüro einen Aperitif organisiert und ihm eine Gedenkmünze und eine goldene Uhr verehrt. Das war am Ende des Sommers gewesen.
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