Das Habitat: Roman (German Edition)
längsseitig vor sich aufgeklappt hatte. Doch was ich zuerst für Schrift hielt, das waren kleine Tasten mit Buchstaben und Zahlen. Der Deckel stand nun wagerecht vor ihm und auf seiner Innenseite war eine Art Glasplatte. Diese erstrahlte in eigenartigem Licht – wie von selbst. Und aus diesem Licht schälte sich der Oberkörper eines Mannes. Ich hatte dieses Gesicht bereits einmal gesehen. Vor zwei Jahren war das gewesen, als das neue Kirchendach eingeweiht worden war. Es war der Bischof von Ennis.
Zuerst glaubte ich, er müsse mich sehen, da ich doch genau in seiner Blickrichtung stand. Doch ich merkte schnell, dass dies offensichtlich nicht der Fall war. Sein Gesicht schien immer wieder, aus der Glasplatte hervorzutreten und ein Stückweit im Raum zu schweben.
„Was ist mit dem Jungen, den ich letztes Jahr schickte?“
Er konnte nur von Malcolm sprechen.
„Sie wissen, dass er noch ein weiteres Jahr Ausbildung vor sich hat. Und auch danach ist es fragwürdig, ob es ratsam wäre, ihn in seine Heimatpfarrei zu schicken.“
„Macht er sich nicht gut?“
„Oh, er ist einer der klügsten jungen Männer, die mir je begegnet sind. Doch gerade deshalb scheint es mir, als wäre er... sagen wir, besser betraut mit größeren Herausforderungen, als denen eines Gemeindepfarrers.“
„Wie darf ich das verstehen, Exzellenz?“
„Das tut jetzt nichts zur Sache! Was ist mit dem jungen O’Sullivan?“
Ich fuhr unwillkürlich zusammen, als ich meinen Namen hörte.
„Es ist nicht einfach mit ihm, Exzellenz. Aber man muss berücksichtigen, was er erlebt hat.“
„Verbreitet er noch immer Geschichten? Das könnte zum Problem werden.“
„Ich habe mit allen Beteiligten jener Nacht gesprochen. Niemand außer ihm hat die Bewahrer gesehen – oder sonst etwas bemerkt, was besser unbemerkt bleibt. Jedermann ist überzeugt, dass Michael O’Sullivan den Verstand verloren hat. Der junge Liam wird schließlich irgendwann einsehen, dass das, was er zu sehen glaubte, nichts als Einbildung war. Hier kommt uns das unselige Fieber zugute, das ihn tagelang gepackt hatte. Eine bedauerliche allergische Reaktion auf das Narkotikum. Er erlitt einen anaphylaktischen Schock. Um ein Haar wäre er uns gestorben.“
„Diese Reaktion konnte nun wahrlich niemand vorhersehen.“
„Ich weiß, Exzellenz. Jedenfalls hat er sich schließlich wieder erholt. Doch das starke Fieber mag vielleicht dazu beitragen, dass ihm glaubhaft gemacht werden kann, dass alles was er sah, nur seinen Fieberträumen zuzuordnen sei. Ich bin zuversichtlich. Es wird nur etwas Zeit und viel Geduld erforderlich sein.“
„Dennoch, ich hielte es für besser, wenn er ein weiteres Jahr unter ihrer Obhut bleibt.“
“Aber Exzellenz! Das wird schwierig sein. Er wird in wenigen Wochen 16. Wir können ihm die Freisprechung nicht verweigern.“
„Sie sagten, er beherrsche nicht einmal seinen Katechismus...“
„Er ist nicht der eifrigste Schüler den ich je hatte. Das stimmt. Doch er ist trotz allem ein recht intelligenter junger Mann. Es wird Gerede geben, wenn er die Freisprechung nicht erhält.“
Der Bischof schien kurz zu überlegen.
„Man könnte ihn für ein Jahr in die Klosterschule nach Galway schicken. Klosterschüler werden erst nach Abschluss ihrer Ausbildung freigesprochen.“
„Das wäre eine Möglichkeit, Exzellenz.“
„Gut. Ich werde alles Nötige in die Wege leiten. Ich werde ihrer Gemeinde zum Pfingstfest einen Besuch abstatten.“
„Was für eine Ehre, Exzellenz!“
Der Bischof winkte ab. Für einen kurzen Moment schien seine Hand, mitten im Raum zu schweben.
„Ich werde den Jungen bei meiner Abreise mit mir nehmen.“
„Wie Sie wünschen, Exzellenz.“
„Gesegnet sei Jesus Christus.“
„In Ewigkeit. Amen.“, erwiderte Pater O’Malley. Doch das Gesicht des Bischofs war bereits verschwunden. Das Licht der Glasscheibe flutete bläulich–weiß in den Raum.
Auf Zehenspitzen schlich ich mich zurück zur Treppe.
Als ich schließlich wieder in der Kapelle stand, glaubte ich von unten zu hören, wie Pater O’Malley die Tür im Kellergang schloss.
Fieberhaft überlegte ich, wie die Klappe wieder zu schließen wäre. Der Pater würde sich unweigerlich denken können, dass er belauscht worden war, wenn er sie offen vorfand. Doch es erwies sich letzten Endes leichter als gedacht. Einer Eingebung zufolge drehte ich die Madonnenstatue diesmal in entgegengesetzter Richtung. Ebenso leise wie zuvor schwang die Steinplatte mit der
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