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Das Habitat: Roman (German Edition)

Das Habitat: Roman (German Edition)

Titel: Das Habitat: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Luzius
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zusammengewachsen. Nur der Daumen stand für sich. Und an der linken Hand fehlten ihm, bis auf Daumen und Zeigefinger, alle weiteren. Plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Dieser Mann war ein Mutant!
    Der Schreck fuhr mir mächtig in die Glieder. Sicher, ich hatte niemals zuvor einen Mutanten gesehen – und all die Geschichten, die Kinder sich so über sie erzählten, hatte ich nie geglaubt – doch war mir nun erst recht ganz mulmig zu mute. Mutanten waren – so die kirchliche Lehre – gestrafte Nachfahren verderbter Unseliger, welche nun die Schuld ihrer Väter zu tragen hatten. Man sollte Mitleid mit ihnen haben, sie jedoch –  aufgrund ihrer Erbschuld – gottgewollt aus der Gemeinschaft aussondern. Für gewöhnlich wurden sie bereits als Säuglinge, sobald die ersten Verformungen sichtbar wurden, in kirchliche Obhut übergeben. Keines der Kinder wurde je wieder in der Gemeinschaft gesehen. Um so mehr verwunderte es mich, dass ein Mutant so unbehelligt hier leben konnte – und das offenbar schon sehr lange, wenn man sein Alter in Betracht zog.
    Sollte Jamerson mir mein Entsetzen angemerkt haben, so ignorierte er es geflissentlich.
    „Geht jetzt und holt Holz“, sagte er. Damit gab er mir einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter und wandte sich ab.
     
     
    Auch wenn der Sturm fast völlig abgeebbt war, so sorgte der anhaltend starke Regen doch dafür, dass Jamerson und seine Kinder den Großteil des Tages im Turm verbrachten. Offenbar kannten sie dieses Anwesen gut genug, um zu wissen, dass auch in den Nebengebäuden nichts mehr von Wert zu holen war. Später sollte ich erleben, wie sie ganze Dörfer und verfallene Gehöfte systematisch nach Brauchbarem durchkämmten.
    Jamerson hatte es oblegen, das Essen an diesem Morgen zu verteilen. Jeder hatte seinen Anteil bekommen. Auch ich.
    Als er mir ein Stück Brot und etwas Dörrfleisch aus meinen eigenen Vorräten ausgehändigt hatte, hatte er mich gütig angelächelt. Das kleine Mädchen lehnte an ihn gekauert und schmatze zufrieden.
    Jamerson hatte ihr liebevoll über den Kopf gestrichen und gesagt:
    „Der alte Jamerson sorgt für seine Kinder.“ Dabei jedoch hatte er mir tief in die Augen geblickt. „Ja, auf den alten Jamerson ist Verlass. Keines seiner Kinder wird je Not leiden, solange der alte Jamerson noch die Kraft hat, alle Unbill von ihnen fernzuhalten.“
    Ich hatte meine aufkeimende Wut hinuntergeschluckt und nichts hierauf erwidert. Das schien er jedoch auch nicht erwartet zu haben. Während er den Rest der Nahrungsmittel in seinem Beutel verstaut hatte, hatte ich ein „Vielen Dank, Vater“ hervorgewürgt, so wie es die anderen getan hatten. Ich spürte instinktiv, dass es besser für mich wäre, wenn ich dieses Spiel vorerst mitspielen würde.
    Ich hatte meine Decke um mich gewickelt und hielt mich abseits in einer Ecke des Raumes. Meine Gedanken kreisten um das, was Jamerson an diesem Morgen zu mir gesagt hatte.
    Der alte Jamerson möchte nicht, dass eines seiner Kinder krank wird.
    Betrachtete er mich etwa als eines seiner Kinder? Das war zu verrückt! Ich sah mich um. Niemand schien Notiz von mir zu nehmen. Nur Tobin, der Älteste, warf mir ab und an einen zwiespältigen Blick zu. Jamerson war ein Mutant – das war mir nun klar. Ich suchte unauffällig nach Anzeichen dafür, ob auch bei den Kindern Mutationen zu sehen waren. Bislang hatte ich nichts davon erkennen können. Doch das besagte gar nichts. Sie mochten Verwachsungen aufweisen, die sie unter ihrer Kleidung verborgen hielten.
    Nun wünschte ich mir, ich hätte in Mutationskunde besser aufgepasst. Doch allzu viel hätte mir das in meiner gegenwärtigen Situation wohl auch nicht genutzt. Die meisten Fragen beschäftigten sich ohnehin mit Pflanzenkunde und Tierhaltung – mit eben jenen Gebieten halt, die für Farmer von vorwiegendem Interesse waren. Menschliche Mutanten waren die Angelegenheit der Kirche, sowie des Gemeindevorstandes. Überhaupt wurde nur selten, und unter vorgehaltener Hand, über dieses Thema gesprochen. Doch glaubte ich, irgendwann einmal gehört zu haben, dass auch Schwachsinn und geistige Verwirrung Symptome von Mutation sein konnten. Ich achtete nun verstärkt auf Hinweise dafür. Sicher, was Jamerson selbst betraf, so musste ich nicht lange suchen. Vor allem die Art wie er sprach – vieles klang als würde er unentwegt aus alten Schriften zitieren. Vor allem aber seine Angewohnheit, von sich ausschließlich in der dritten Person zu

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