Das Habitat: Roman (German Edition)
brachte sie mit sich. Mit einem Schlag war alles noch viel komplizierter geworden. Ich hatte eine Antwort erhalten und sah mich der Lösung des Rätsels doch weiter entfernt als je zuvor.
Einer der älteren Jungen gesellte sich zu mir. Ich war, aufgrund meiner jüngsten Erkenntnisse, derart in meine Gedanken vertieft gewesen, dass ich es zunächst kaum wahrgenommen hatte.
„Es wird Zeit brauchen, sich bei uns einzugewöhnen“, sagte er mit einfühlsamen Ton.
Ich blickte auf. Sein Blick war freundlich und offen. Er war mir schon vorher aufgefallen. Er war irgendwie anders, als die anderen von Jamersons Kindern. Irgendwie schien er nicht so recht, zu ihnen zu passen.
„Ich bin Ryan“, sagte er und hielt mir die rechte Hand entgegen. Unwillkürlich ergriff ich sie. Ryan war vielleicht ein Jahr jünger als ich, doch das war schwer zu sagen.
„Ich habe auch eine Weile gebraucht, mich einzufügen. Doch du wirst sehen, das Leben bei dem alten Jamerson ist gar nicht so schlecht – nun zumindest besser als das was vorher war.“
Irritiert sah ich ihn an. Unwillkürlich hatte ich angenommen, dass die Kinder, die Jamerson seine Kinder nannte, auch tatsächlich alles seine Söhne und Töchter waren. Natürlich war dies, wenn man erst mal darüber nachdachte, eine völlig unbegründete Annahme gewesen – alleine mein Beispiel wies bereits deutlich auf das Gegenteil hin. Dennoch war ich im ersten Augenblick überrascht.
Er muss mir meine Überraschung wohl angesehen haben, denn unaufgefordert erklärte er:
„Ich bin seit gut einem Jahr bei Jamerson. Nur Tobin und Allen sind seine leiblichen Söhne – soweit ich weiß jedenfalls. Sie sprechen nicht darüber. Und für Jamerson sind wir alle seine Kinder. Er macht da keinen Unterschied. Und falls doch, so lässt er es sich zumindest niemals anmerken.“
Die Art wie er „wir“ sagte, ließ mich unwillkürlich zusammen fahren. Es war deutlich, dass er auch mich damit einnahm. Die Erkenntnis, dass es offenbar aus seiner Sichtweise selbstverständlich war, dass ich von nun an ein Teil von Jamersons Schar wäre, erschreckte mich. Dass ich womöglich einen anderen Weg einzuschlagen hätte, schien keinen von ihnen auch nur in den Sinn zu kommen.
„Nun ausgenommen die kleine Sue vielleicht“, fuhr Ryan fort. „Sie hat der alte Jamerson ganz besonders ins Herz geschlossen.“
Auf meinen fragenden Blick hin erläuterte er:
„Wir fanden sie letzten Herbst. In einem verfallenen Haus, mitten im Burren. Ihre Eltern sind entweder gestorben – oder sie haben sie einfach verlassen. Sie war halb verhungert und völlig verängstigt, als wir sie fanden. Mehr tot als lebendig. Jamerson selbst hat sie gesund gepflegt. Seither weicht sie ihm nicht mehr von der Seite.“
Er sah mich an und senkte die Stimme deutlich, als er noch hinzufügte:
„Sie ist von Jamersons Art. Auch wenn man es ihr kaum ansieht. Nur an den Zehen kann man es erkennen. Wir glauben, sie wurde deshalb ausgesetzt.“
Ryan war ein sommersprossiger Junge mit einem freundlichem Gemüt. Ganz im Gegensatz zu Allen zum Beispiel, der mich an diesem Morgen so unsanft aus dem Schlaf getreten hatte. Er redete gerne und erzählte mir bereitwillig von seinen Erfahrungen bei Jamersons Schar.
Er war Anfang letzten Sommers auf Tobin gestoßen, als er diesen dabei beobachtet hatte, wie er einen, zum Kühlen auf ein Fensterbrett gestellten, Napfkuchen gestohlen hatte. Ryan selbst war bereits einige Zeit lang um die Farm herumgeschlichen und hatte mit dem selben Gedanken gespielt. Seine Eltern – arme Tagelöhner und der Vater nahezu immer angetrunken – waren vor zwei Jahren gestorben und hatten ihm nichts hinterlassen als Schulden. Das armselige Haus war vom Gemeinderat seines Dorfes versteigert worden und der Junge in kirchliche Obhut überantwortet. Bereits eine Woche später war er nach Galway, in das dortige Waisenhaus, verbracht worden. Da aber hatte er es nicht lange ausgehalten. Von den älteren Jungen misshandelt und von den Sorgern gedemütigt, sollte er zu einem wertvollen Mitglied der Gemeinschaft herangezogen werden. Bereits nach wenigen Wochen war er von dort ausgebüchst und hatte sich fortan alleine durchgeschlagen. Bis er dann schließlich von Tobin mit zu Jamerson genommen wurde. Hier wurde er freundlich aufgenommen – als Gleicher unter Gleichen. Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte er sich geachtet und geliebt.
Allen Nackenschlägen, welche das Leben für ihn stets bereitgehalten
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