Das Halsband des Leoparden
einiges gesehen hatte, nicht gut zu Gesicht. Zumal ich ja mehrfach Gelegenheit gehabt hatte, mich zu überzeugen, wie wenig sogenannten Ahnungen, die meist von Blutdruckschwankungen oder Verdauungsstörungen herrührten, zu trauen war.
»Es ist eine Halbinsel, Watson. Sie ist durch eine schmale Landzunge mit dem Festland verbunden. Eine uneinnehmbare Festung, die wir Engländer im Laufe der Jahrhunderte immer wieder vergebens zu stürmen versuchten«, belehrte mich mein Freund dozierend. »Hier befand sich ein Nest kühner Korsaren, die feindliche Schiffe auf allen Meeren und Ozeanen überfielen. Sie bezeichneten sich nicht als Franzosen, sondern als Malouinen, eine eigene Nation, die keine andere Macht als Gott und den Erfolg anerkannte. Wissen Sie, was ›schwarzer Humor‹ ist?«
»Eine dekadente, äußerst unangenehme Richtung der Literatur«, erwiderte ich in der Gewissheit, in der schönen Literatur nun doch bewanderter zu sein als Holmes. »Wenn Schreckliches als komisch dargestellt wird.«
»Ganz recht. Nun, Saint-Malo kann als Heimat des schwarzen Humors gelten.«
»Tatsächlich?«
Angesichts der düsteren Bastion des einstigen Korsarennests schien das wenig glaubwürdig.
»Man muss sich nur die Namen der hiesigen Straßen ansehen. Eine heißt zum Beispiel Tanzender Kater. Im achtzehnten Jahrhundert verursachten unsere Landsleute beim Versuch, die Stadt zu erobern, vor ihren Mauern eine gewaltige Explosion, bei der das Meerwasser sich über hundert Meter auftürmte und den Grund bloßlegte. Erstaunlicherweise kam niemand in der Stadt zu Schaden – bis auf einen Kater, der von der Druckwelle mehrmalsherumgewirbelt und schließlich zerschmettert wurde. Und dort, links neben dem Dom, befindet sich eine Straße, in der im siebzehnten Jahrhundert ein verliebter Kapitän zu Tode kam. Es war streng verboten, nachts das Haus zu verlassen, auf den Straßen liefen scharfe, auf Menschen abgerichtete Wachhunde herum. Doch der kühne Kapitän riskierte es. Er brach zu einem Rendezvous auf und wurde von den Hunden in Stücke gerissen. Boccaccio hätte aus dieser traurigen Geschichte eine zu Tränen rührende Novelle gemacht, Shakespeare eine Tragödie. Die Malouinen aber verewigten den unglücklichen Romeo auf ihre Art: Seit jener Zeit heißt die Gasse ›Straße der dicken Wade‹.«
»Mein Gott, Holmes!«, rief ich. »Ich staune immer wieder, wie viele unglaubliche Informationen Ihr Gedächtnis enthält. Bis hin zu den Straßennamen einer kleinen bretonischen Provinzstadt!«
Er antwortete nicht sofort, und als er es tat, richtete er den Blick zur Seite, auf die vagen Umrisse der menschenleeren Küste.
»Wie Sie wissen, Watson, war meine Großmutter Französin. Hier ganz in der Nähe stand ihre Villa, ich kenne die Gegend also. Aber wir legen an. Haben Sie Ihren prächtigen Koffer schon gepackt?«
Ich eilte in meine Kajüte hinunter. Da wir die Nacht angezogen verbracht und im Sessel geschlafen hatten, war es nicht nötig gewesen, den Koffer auszupacken, doch ich hatte mir nicht das Vergnügen nehmen lassen, einen Teil seines Inhalts auf dem Tisch auszubreiten. Das großartige Stück der Firma Waverly hatte ich am Tag zuvor erworben, als Weihnachtsgeschenk für mich selbst, und ich schwöre, der Koffer war seine sechs Pfund und sechs Shilling wert. Er war aus ausgezeichnetem hellem Leder, hatte versilberte Schlösser und Beschläge, mehrere Innenfächer, eine integrierte Schatulle für diverse Kleinigkeiten und sogar eine Extratasche für eine Thermosflasche. Noch nie hatte ich einen so prächtigen Koffer besessen! Am tiefsten beeindruckt aber war ich vom erlesenen Geschmack der Hersteller, die dieses strahlende Meisterstück desTäschnerhandwerks mit einer bescheidenen karierten Hülle versehen hatten, um seine Oberfläche vor Kratzern zu schützen. Auf die Gefahr hin, lächerlich zu erscheinen, versichere ich, dass darin für mich etwas wahrhaft Britisches lag, so ganz anders als die kontinentale Blendsucht. Die Franzosen und Italiener machen es umgekehrt: Bei ihnen ist die Hülle stets von besserer Qualität als der Kern. Bevor ich wieder auf das zugige Deck hinaufging, nahm ich aus meiner Thermosflasche einen Schluck Tee mit Rum und las noch einmal das Telegramm, das Holmes mir für mein Archiv überlassen hatte. Es war am Abend zuvor gekommen.
UM ALLES IN DER WELT AUSRF NÄCHTLICHEM PAKETBOOT NACH SAINT-MALO PKT HONORAR ZWANZIG PKT DES ESSARTS.
Ich begriff nicht viel vom Inhalt dieser Depesche
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