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Das Halsband des Leoparden

Das Halsband des Leoparden

Titel: Das Halsband des Leoparden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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Telegraphen.
    Was machst du?! bäumte der Verstand sich auf. Geh weg, solange du noch heil und gesund bist! Dieses Raubtier wird dir mitten in der Umarmung die Kehle durchbeißen. Das soll dreihunderttausend wert sein?
    Der zweite Blindenführer, der Geist, schwieg sich aus. Miss Callaghan interessierte ihn nicht.
    Fandorin versuchte, dem ersten Blindenführer zu widersprechen: Wenn die Umarmung ihr gefällt, beißt sie nicht.
    Aber ein solcher Opponent ist nicht zu überlisten. Also wird sie zubeißen, wenn die Umarmung beendet ist, parierte der Verstand, und er hatte natürlich zu hundert Prozent recht.
    Ich muss sofort weg, sagte sich Fandorin.
    Doch Ashlean Callaghan presste sich an ihn, und ihr geschmeidiger Körper glühte und bebte. Auf diese zauberhafte Vibration reagierte sogleich der dritte Blindenführer, der die beiden anderen wegstieß und verdrängte. Im Kopf blitzte die wahrhaft russische, absolut nicht konfuzianische Maxime auf: Ach, komme was da wolle!, und Fandorin stürzte sich furchtlos in das riskanteste Abenteuer seines Lebens.

Die Gefangene im Turm
oder
Der kurze, aber schöne Weg der drei Weisen
    Die Gefangene im Turm
(Aus den Aufzeichnungen von John Hamish Watson)

    I

    Das Paketboot fuhr in die Bucht von Saint-Malo ein wie in den offenen Rachen des biblischen Leviathan. Die Kette steiniger, von alten Forts gekrönter Inselchen sah aus wie ein geblecktes Raubtiergebiss, jederzeit bereit, unser kleines Schiff zu zermalmen. Die aus dem grauen Nebel ragende Spitze der Kathedrale Saint-Vincent wirkte wie ein Stachel. Ich stand an Deck, betrachtete die unwirtliche Landschaft und fröstelte in meinem Mantel aus festem, kautschukgummiertem Stoff. Es war nasskalt, und der Wind wehte uns salzige Tropfen ins Gesicht. Der trübe Tag, vor kaum einer Stunde angebrochen, schien rasch wieder zur Neige gehen zu wollen.
    Übrigens war es kein gewöhnlicher Tag – es war der letzte des Jahres, womöglich sogar des Jahrhunderts. In dieser Hinsicht waren Holmes und ich verschiedener Ansicht. So oft ich ihm auch klarmachte, dass das ganze folgende Jahr noch zum achtzehnten Jahrhundert gehören würde – er blieb bei seiner Meinung. Mit dem Jahr 1899 endet die alte Zeit, sagte Holmes. »Achtzehnhundert … das sind Byron und Napoleon, Krinoline und Lorgnette, ›Der Barbier von Sevilla‹ und ›Rule, Britannia‹. Mit dem 1. Januar beginntdas Zeitalter ›Neunzehnhundert‹, und da wird alles anders sein.« Damit hatte er zweifellos recht.
    Eine Bemerkung von Holmes, der neben mir stand und mit sichtlichem Behagen die kalte Luft einsog, riss mich aus meinen Gedanken.
    »Ich gestehe, ich bin froh, dass wir aus London geflohen sind. Ich kann die Silvesternacht nicht ausstehen. Das ist die schlimmste Zeit des Jahres, noch schlimmer als Weihnachten! Nicht einmal Verbrechen werden verübt. Die meisten Unholde sind sentimental – sie sitzen gern bei Kerzenschein am gedeckten Tisch und singen mit süßlicher Stimme ›Jingle Bells‹.« Er seufzte schwer. »Wissen Sie, Watson, nie fühle ich mich so einsam wie zu Silvester. Ich schließe mich zu Hause ein, lösche das Licht und kratze auf meiner Geige … Früher nahm ich Zuflucht zu Opium. Aber seit man mir die schädliche Wirkung der Alkaloide auf die analytische Funktion des Gehirns wissenschaftlich bewiesen hat, bin ich der einzigen Möglichkeit, wenigstens für eine Weile die lästige Bürde der Erdanziehung abzuwerfen, beraubt. Schauen Sie nur, was für ein herrlicher Anblick!«, rief er, und ich staunte wieder einmal, wie eng in diesem Mann unbeirrbare Rationalität und rigorose Stimmungsschwankungen nebeneinander lagen.
    Der Anblick der grauen Stadt, die mit dem aschgrauen Meer und dem ebenso fahlen Himmel verschmolz, erschien mir keineswegs herrlich. Es war eine in den Felsen einer kleinen Insel gehauene Festung. Hinter den düsteren Mauern, an deren Fuß sich die Wellen brachen, ragten die Dächer eng aneinandergedrängter Häuser hervor. Ihre nassen Ziegel glänzten wie Drachenschuppen. Im Sommer, bei schönem Wetter, mochte Saint-Malo freundlicher aussehen; an diesem trüben Dezembertag aber wirkte es recht unheilvoll, und mein Herz zog sich zusammen – ob vor seltsamer Erregung oder von einer unguten Vorahnung, hätte ich nicht sagen können.
    »Ich wusste gar nicht, dass Saint-Malo auf einer Insel liegt«, bemerkte ich beiläufig, verärgert über meine Empfindsamkeit. Sie stand einem Mann von siebenundvierzig Jahren, der in seinem Leben schon

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