Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Handwerk des Teufels - Pollock, D: Handwerk des Teufels

Das Handwerk des Teufels - Pollock, D: Handwerk des Teufels

Titel: Das Handwerk des Teufels - Pollock, D: Handwerk des Teufels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donald Ray Pollock
Vom Netzwerk:
Er war der Erste gewesen, sie war gerade sechzehn geworden. Sie hatten in jener Nacht lange zusammen auf dem Boden im Lagerraum gelegen, eingemehlt vom 20-Kilo-Sack, den sie umgeworfen hatten. Er kam immer noch ab und zu vorbei, um ein paar Billardkugeln zu stoßen und sie damit aufzuziehen, dass sie doch mal wieder zusammen einen Teig kneten sollten.
    Als sie in die Küche kam, saß Carl vor dem Gasherd und las die Zeitung ein zweites Mal. Seine Finger waren grau vor Druckerschwärze. Alle Herdflammen brannten, die Ofenklappe stand offen. Hinter Carl tanzten blaue Flammen wie kleine Lagerfeuer. Auf dem Küchentisch lag seine Pistole, der Lauf auf die Tür gerichtet. Das Weiße seiner Augen war von roten Äderchen durchzogen, sein fettes, blasses, unrasiertes Gesicht sah im Schein der nackten Glühbirne über dem Tisch aus wie ein kalter, ferner Stern. Er hatte den Großteil der Nacht damit verbracht, in dem winzigen Schrank im Flur zu hocken, den er als Dunkelkammer nutzte, um dem letzten Film, den er vom vergangenen Sommer aufgehoben hatte, Leben einzuhauchen. Er hasste es, wenn es vorüber war. Er hätte beinahe geweint, als er den Film entwickelte. Bis August war es noch lange hin.
    »Diese Leute sind so durchgeknallt«, sagte Sandy und suchte in ihrer Tasche nach den Autoschlüsseln.
    »Welche Leute?« fragte Carl und blätterte um.
    »Na, die im Fernsehen. Die wissen einfach nicht, was sie wollen.«
    »Verdammt, Sandy, du interessierst dich zu sehr für diese Trottel«, sagte er und sah ungeduldig auf die Uhr. »Glaubst du vielleicht, die interessieren sich einen Scheiß für dich?« Sie hätte vor fünf Minuten bei der Arbeit sein sollen. Er wartete schon den ganzen Tag darauf, dass sie endlich verschwand.
    »Na, wenn da nicht dieser Arzt wäre, würde ich gar nicht mehr schauen«, entgegnete sie. Andauernd fing sie von diesem Arzt aus einer der Shows an, einem großen, gut aussehenden Kerl, der Carl wie der glücklichste Scheißer auf der ganzen Welt vorkam. Der Typ konnte in ein Rattenloch fallen und kam mit einem Koffer voller Geld und den Schlüsseln zu einem neuen El Dorado wieder raus. In all den Jahren, in denen Sandy nun die Serie verfolgte, hatte er wahrscheinlich mehr Wunder vollbracht als Jesus. Carl konnte den Kerl mit seiner falschen Schauspielernase und den Sechzig-Dollar-Anzügen nicht ertragen.
    »Und wessen Schwanz hat er heute gelutscht?« fragte Carl.
    »Ha! Das musst du gerade sagen«, erwiderte Sandy und zog ihren Mantel an. Sie hatte genug davon, andauernd ihre Lieblingsserien verteidigen zu müssen.
    »Was zum Henker soll das heißen?«
    »Es soll heißen, was immer du denkst, das es heißen soll«, antwortete Sandy schnippisch. »Du warst doch schließlich die ganze Nacht in dem Schrank.«
    »Ich sag dir was, ich würde dem Arschloch gerne mal begegnen.«
    »Da wette ich drauf.«
    »Den würd ich schon zum Quieken bringen wie so ein gottverdammtes Schwein, ich schwör’s bei Gott!« schrie Carl, als Sandy die Tür hinter sich zuschlug.
    Nach ein paar Minuten hörte Carl auf, den Schauspieler zu verfluchen, und machte den Herd aus. Er legte die Arme auf den Tisch und den Kopf darauf und döste kurz ein. Als er aufwachte, war es dunkel. Er hatte Hunger, doch im Kühlschrank fand er nur zwei schimmlige Brocken Brot und einen Rest trockenen Chili-Streichkäse. Er öffnete das Küchenfenster und warf das Brot auf den Hof. Durch den Lichtschein, der von der Veranda der Hausbesitzerin fiel, taumelten ein paar Schneeflocken. Carl hörte im Schlachthof auf der anderen Straßenseite jemanden lachen, dann das metallische Scheppern eines sich schließenden Tors. Ihm fiel auf, dass er seit über einer Woche nicht mehr vor der Tür gewesen war.
    Carl schloss das Fenster, wechselte ins Wohnzimmer hinüber und ging auf und ab, sang alte Kirchenlieder und wedelte mit den Armen, als würde er einen Kirchenchor dirigieren. »Bringing in the Sheeves« war eins seiner Lieblingslieder, und er sang es mehrmals hintereinander. Als er noch klein war, hatte es seine Mutter beim Wäschewaschen gesungen. Sie hatte ein bestimmtes Lied für jede Aufgabe gehabt, jede Gefühlsregung, für jede Kleinigkeit des Alltags, seit der Alte gestorben war. Sie wusch für die Reichen Wäsche, aber die Hälfte der Zeit wurde sie von den nichtsnutzigen Mistkerlen übers Ohr gehauen. Manchmal hatte er die Schule geschwänzt, sich unter der verrotteten Veranda bei den Schnecken, Spinnen und dem wenigen versteckt, was noch von

Weitere Kostenlose Bücher