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Das Handwerk des Teufels - Pollock, D: Handwerk des Teufels

Das Handwerk des Teufels - Pollock, D: Handwerk des Teufels

Titel: Das Handwerk des Teufels - Pollock, D: Handwerk des Teufels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donald Ray Pollock
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Nachbars Katze übrig war, und hatte ihr den ganzen Tag zugehört. Ihre Stimme schien nie zu ermüden. Er teilte sich das Sandwich ein, das sie ihm als Pausenbrot mitgegeben hatte, und trank Dreckwasser aus einer rostigen Suppendose, die er im Brustkasten der Katze aufbewahrte. Er tat so, als sei es Gemüsebrühe oder Hühnersuppe mit Nudeln, doch wie sehr er sich auch bemühte, es schmeckte immer nach Lehm. Wenn er doch um alles in der Welt nur beim letzten Einkauf Suppe mitgebracht hätte, dachte er jetzt. Die Erinnerung an die alte Dose machte ihn hungrig.
    Carl sang ein paar Stunden lang, seine Stimme dröhnte durch das Zimmer, sein Gesicht war ganz rot und verschwitzt von der Anstrengung. Kurz vor neun Uhr abends klopfte die Vermieterin wild mit dem Besenstiel gegen ihre Zimmerdecke. Er war gerade mitten in einem stürmischen »Onward Christian Soldiers«. Zu jeder anderen Zeit hätte er sie einfach überhört, doch heute Abend kam er holprig zum Ende; er war in der Stimmung für anderes. Wenn sie allerdings nicht langsam die verdammte Heizung aufdrehte, würde er sie bis Mitternacht wachhalten. Er konnte ja die Kälte ganz gut ertragen, aber Sandys ständiges Zittern und Mäkeln gingen ihm langsam auf die Nerven.
    Carl ging in die Küche, holte eine Taschenlampe aus der Besteckschublade und schaute nach, ob die Tür abgeschlossen war. Dann schloss er alle Vorhänge; am Ende trottete er ins Schlafzimmer. Er ging auf die Knie und suchte unter dem Bett nach einer Schuhschachtel, trug sie ins Wohnzimmer, machte das Licht aus und setzte sich im Dunkeln auf das Sofa. Die Kälte drang durch die undichten Fenster, und er zog sich Sandys Decke um die Schultern.
    Er stellte sich die Schachtel auf den Schoß, schloss die Augen und griff mit einer Hand unter den Deckel. In der Schachtel waren über zweihundert Fotos, aber er zog nur eins heraus. Er fuhr mit dem Daumen langsam über das dicke Papier, versuchte zu erahnen, um welches Bild es sich handelte, ein kurzes Zögern, damit das alles noch ein wenig länger dauerte. Er legte sich fest, schlug die Augen auf und schaltete die Taschenlampe nur eine Sekunde lang an.
Klick, klick
. Ein winziger Vorgeschmack, dann legte er das Foto beiseite, schloss wieder die Augen und nahm das nächste Foto heraus.
Klick, klick
. Nackte Rücken und blutige Löcher und Sandy mit gespreizten Beinen. Manchmal ging er die ganze Schachtel durch, ohne ein einziges Bild richtig zu raten.
    Einmal glaubte er, er würde etwas hören, eine zugeschlagene Autotür, Schritte auf der Hintertreppe. Carl stand auf, ging mit gezückter Waffe auf Zehenspitzen von Zimmer zu Zimmer und linste aus den Fenstern. Dann kontrollierte er die Tür und setzte sich wieder aufs Sofa. Die Zeit schien sich zu verändern, wurde schneller, wurde langsamer, lief vor und zurück, wie in einem verrückten Traum, den er immer wieder durchlebte. Erst stand er auf einem schlammigen Sojabohnenacker außerhalb von Jasper, Indiana; mit dem nächsten Klicken der Taschenlampe steckte er in einer Schlucht nördlich von Sugar City, Colorado. Alte Stimmen krochen ihm wie Würmer durch den Kopf. Manche fluchten bitter, andere flehten noch immer um Gnade. Gegen Mitternacht hatte er einen Großteil des Mittleren Westens hinter sich gebracht und die letzten Lebensaugenblicke von vierundzwanzig Fremden durchlebt. Carl erinnerte sich an jede Einzelheit. Ihm war, als würde er sie jedes Mal, wenn er sie aus der Schachtel holte, wiederauferstehen und ihr eigenes Lied singen lassen. Ein letztes
Klick
, und er machte Schluss.
    Carl versteckte die Schachtel wieder unter dem Bett, machte das Licht an und wischte die Decke mit Sandys Waschlappen ab, so gut er konnte. In den folgenden Stunden saß er am Küchentisch, putzte die Pistole, studierte die Straßenkarten und wartete auf sie. Nach einer Sitzung mit der Schachtel sehnte er sich immer nach ihrer Gesellschaft. Sie hatte ihm von dem Kerl aus der Papierfabrik erzählt, und er dachte eine Weile darüber nach, was er mit dem Haken machen würde, falls er jemals einen Tramper mit so einer Hand aufgabelte.
    Carl hatte vergessen, wie hungrig er wirklich war, als Sandy mit zwei kalten Hamburgern, drei Flaschen Bier und der Abendzeitung erschien. Sandy saß ihm beim Essen gegenüber, zählte sorgfältig ihr Trinkgeld, häufte Fünfer, Zehner und Vierteldollar zu kleinen, ordentlichen Stapeln; Carl erinnerte sich daran, wie er vor ein paar Stunden über ihre dumme Fernsehsendung hergezogen war. »Du

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