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Das Handwerk des Toetens

Das Handwerk des Toetens

Titel: Das Handwerk des Toetens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Gstrein
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der Satz, den sie dann von sich gab, ließ ohnehin keinen Platz mehr für Skepsis, so selbstgewiß und wie ein für alle Mal kam er daher.
    »Entweder man ist ein Mensch, oder man ist keiner.«
    Damit hatte es sich, und ich ging früh schlafen und wurde früh wieder wach, aufgeweckt vom Geschrei der Möwen, die sich im Hof zwischen den dort bis zum ersten Stock gestapelten Getränkekisten um etwas zankten. Die Gangfenster waren offen, wehende Gardinen, aber als ich mich hinauslehnte, konnte ich nicht erkennen, was es war. Obwohl es schon hell wurde, zeigte sich am Himmel noch immer der Mond, dreiviertel voll und wie an der Brücke gespiegelt flußabwärts, so kam es mir vor, wo flußaufwärts die untergehende Sonne gestanden war. Vor dem Hoteleingang parkte ein Gelenkbus, der ehemals bei der österreichischen Post in Diensten gewesen sein mußte und immer noch für einen Familienurlaub irgendwo in den Bergen warb, und während ich ungläubig auf die Aufschrift starrte, hätte es nichts Absurderes geben können, las sie sich für mich doch wie eine Nachricht aus einer untergegangenen Welt.
    Ich weiß nicht, warum, aber ich nahm den ersten Zug nach Zagreb und rief von dort aus Helena und Paul an und bat sie, mich aufzusammeln. Es war sie, die ans Telephon ging, und ich erinnere mich, daß sie keine Fragen stellte, er stand offenbar neben ihr, und sie sagte nur, wenn ich wollte, könnten sie in zwei Stunden bei mir sein. Dann ging ich in das Café am Jelačić-Platz, in dem sie bei seinem Unfall vergeblich auf ihn gewartet hatte, und als sie fast pünktlich auftauchten, mußte ich sie so wenig überreden, gleich nach Hause zu fahren, daß ich mich immer noch frage, ob es nur meinetwegen war oder ob sie nicht auch genug von allem hatten.

Fünftes Kapitel

EINE SCHÖNE GESCHICHTE

Wir waren erst ein paar Tage zurück, als Lillys Buch erschien, und ich nahm das zum Anlaß, nach Wien zu fliegen und mit ihr ein Interview zu führen. Es war nicht leicht, meine Reise vor der Redaktion zu begründen, weil niemand auch nur ihren Namen kannte, doch am Ende saß ich im Flugzeug und hatte es bei der Ankunft schon fast ganz gelesen. Knapp über achtzig Seiten, mehr hatte es nicht, aber sie zeichnete in ihm ein Bild von Allmayer, wie ich es mir nicht vorstellen wollte, derart fix und fertig war es, von Anfang an auf das Ende ausgerichtet, geradeso, als wäre nie etwas anderes möglich gewesen als das, was dann eintreten sollte.
    Es gab gelungene Beschreibungen darin, gelungen in ihrer Schlichtheit, etwa wenn sie schilderte, wie sie mit ihm schigefahren war oder ganze Abende lang über Bücher gesprochen hatte, gelungen, trotz allem Pathos, in seiner Ungeschütztheit der Satz, den sie in einem Brief des Zwanzigjährigen gefunden hatte, Ich will schreiben, studieren und kämpfen für eine bessere Welt , oder die Passagen über einen Winter in Innsbruck mit einer Stadt wie ohne Menschen, wenn sie in der Nacht noch aus dem Haus gegangen waren und der neu gefallene Schnee in den Straßen geglitzert und gefunkelt hatte wie seit der Kindheit nicht mehr. Was auch immer sie sonst noch in ihm sah, sie hielt ihn vor allem für einen Träumer, und genau das brachte sie in Schwierigkeiten, sobald es um den Krieg ging, weil es da unbeholfen klingen mußte, wenn sie von seiner Liebe zu den Balkanländern sprach und ihm andichtete, daß er im Grunde genommen selbst etwas Slawisches gehabt hatte, so, wie er war, ein Intellektueller, in ihren Worten, und gleichzeitig unglaublich naiv, ein Klischee, das mehr über sie aussagte als über ihn, oder sein angeblicher Hang zur Tragödie. Sofern es nicht eine zufällige Übereinstimmung war, hatte sie den Titel bei dem kroatischen Schriftsteller Miroslav Krleža geklaut, Tausendundein Tod , und der allein legte zusammen mit dem Motto den Ton fest, in dem sie über ihn schrieb, den fünf Zeilen aus einem Lied über den Amselfeldmythos, merkwürdigerweise auf englisch, Look upon the clear night sky and tell me / If the silver moon is sinking westward / If the morning star is shining eastward / If the time has come for us to travel / To the fair and level Plain of Blackbirds.
    Danach fragte ich sie dann auch als erstes, aber sie sagte, sie wisse nicht viel mehr darüber, könne mit dem ganzen Kram ohnehin nichts anfangen, der überall beschworenen serbischen Niederlage gegen die Türken vor sechshundert Jahren, die wieder und wieder ausgegraben worden war, um in den neuen Kriegen Ressentiments zu

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