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Das Handwerk des Toetens

Das Handwerk des Toetens

Titel: Das Handwerk des Toetens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Gstrein
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hätte.«
    Das andere Ufer war nicht länger als ein paar Minuten wie hinter Milchglas verschwunden gewesen, und als es dann nur mehr nieselte und wir uns aufmachten zur Anlegestelle beim Atlantic, wo wir ein Boot nehmen wollten, sprach sie noch immer davon, daß ihr plötzlich die Augen aufgegangen waren, und konnte sich nicht genug über sich selbst wundern.
    »Unglaublich, wie blind ich lange gewesen bin.«
    Wir waren die einzigen Fahrgäste und bereits draußen auf dem Wasser, als sie sagte, was auch immer sie am Anfang über den Krieg gedacht hatte, nach ihrer Rückkehr konnte sie sich nur mehr schwer etwas vormachen. Die Segler, die eben noch in großer Zahl zwischen den beiden Ufern hin- und hergekreuzt sein mußten wie an all den anderen Wochenenden, waren wie weggewischt, buchstäblich von der Bildfläche verschwunden, und während sie erzählte, sie sei auf einmal wieder fast tagtäglich bei ihren Eltern zu Besuch gewesen, nachdem sie sich sonst oft wochenlang nicht hatte blicken lassen, sah ich durch die schlierenüberzogenen Scheiben der Kabine hinaus in das Grau in Grau, in das allmählich wieder die Farben zurückkehrten, und versuchte mir vorzustellen, wie ihre Onkel und ihre Tanten um den Küchentisch gesessen waren und Radio gehört hatten, die jugoslawische Sendung aus Köln, wie sie sich ausdrückte, zusammen mit Bekannten, die unangemeldet hereingeschneit kamen, immer neue Schreckensgeschichten mitbrachten und sich alarmiert ansahen, wenn das Telephon klingelte. Es mochte an der Gemächlichkeit liegen, mit der wir uns fortbewegten, an dem Geschaukel der Wellen, die fast in Augenhöhe waren, so tief saßen wir, und an dem einschläfernden Tuckern des Motors, daß ich mich von ihr in eine andere Zeit zurückgetragen fühlte, nicht nur die knapp zehn Jahre, die seither vergangen waren, viel weiter, als sie darüber sprach, daß es ihr weh getan habe, zu sehen, wie angreifbar sie alle auf einmal wieder waren, geradeso, als wären sie nicht schon ihr halbes Leben im Land, sondern erst vor kurzem gekommen, als würden sie die Sprache noch immer nicht sprechen und sich, zusammengepfercht in einem Arbeiterwohnheim, zu dritt oder viert ein winziges Zimmer ohne Dusche teilen und Angst haben, man könnte sie über Nacht auffordern, zu verschwinden, ihnen von Amts wegen mitteilen, es wäre kein Platz mehr für sie, wenn ihre Freunde auf dem Balkan nicht aufhörten, sich gegenseitig den Garaus zu machen.
    »Es war entsetzlich, aber zum ersten Mal habe ich meine eigenen Eltern als Ausländer gesehen«, sagte sie, ohne mich dabei anzuschauen. »Ich habe mir nichts Beklemmenderes vorstellen können, als Mitleid mit ihnen zu empfinden, und trotzdem ist es mir nicht gelungen, mich dagegen zu wehren.«
    Da saßen sie, und es war einerseits ihr Wissen, daß sie auf der Schwelle kehrtmachen konnte, andererseits das gleiche Gefühl unentrinnbarer Zugehörigkeit, das ihr schon als Kind manchmal den Atem genommen hatte, die gleiche Hypothek, bloß nichts falsch zu machen, eine gute Tochter zu sein und sie nicht zu enttäuschen, weil sie weggegangen waren, alles zurückgelassen hatten, so wenig das gewesen sein mochte, um mit nichts und wieder nichts in einem fremden Land neu anzufangen.
    »Auf einmal war die ganze Misere wieder da.«
    Es klang nicht bitter, so, wie sie das aussprach, eher resigniert, und als sie erzählte, sie habe sich daran erinnert, daß sie mit vier oder fünf Jahren, aus dem Kindergarten kommend, unter keinen Umständen mehr kroatisch mit ihnen sprechen wollte und sich gleichzeitig für das zusammengestammelte Deutsch zu genieren begann, mit dem sie sich recht und schlecht durchschlugen, war ein verzweifelter Ausdruck in ihre Augen getreten.
    »Das muß für sie eine Katastrophe gewesen sein«, fuhr sie fort, nachdem sie eine Weile geschwiegen hatte. »Sonst hätten sie nicht so lange danach noch ständig damit angefangen.«
    Obwohl sie sich mehrmals geräuspert hatte, merkte ich, daß ihre Stimme zitterte, und ich versuchte, sie möglichst zu beschwichtigen.
    »Was willst du von einem Kind anderes verlangen?« Sie schien gar nicht hinzuhören.
    »Nichts«, sagte sie fahrig. »Nichts.«
    Dann hob sie abwehrend die Hände.
    »Mich interessiert aber, warum ich mich auf einmal gerade nach dem am meisten gesehnt habe, was mir all die Jahre zuvor ein einziges Greuel gewesen ist.«
    Das paßte nicht zu dem Bild, das Allmayer von ihr gehabt hatte, um über Paul und seine Ausfälle erst gar nicht zu reden,

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