Das Handwerk des Toetens
aber als ich sie fragte, was sie damit meinte, lachte sie nur.
»Es konnten die unbedeutendsten Kleinigkeiten sein.«
Damit sprach sie von einem bestimmten Geruch, von Zusammentreffen, bei denen sich viel zu viele Leute in winzigen Wohnungen drängten, regelrechten Aufläufen zu irgendwelchen Festtagen, und daß sie plötzlich ausgerechnet die quälenden Montagnachmittage in der jugoslawischen Schule fast schmerzhaft vermißte, die sie mehr als sonst alles gehaßt hätte, die zwei Stunden Unterricht in der Virchowstraße, zu denen ihre Mutter sie immer hingebracht hatte.
»Je mehr ich davon aufzähle, um so weniger bleibt«, sagte sie, offensichtlich selbst überrascht, wie ungeordnet und vage ihre Erinnerungen daherkamen. »Am besten fange ich gar nicht damit an.«
Das war ein Versuch, mir auszuweichen, aber ich hakte nicht nach und sah zu, wie das Boot anlegte, zwei Leute in durchsichtigen Regenüberzügen aufnahm und wieder abfuhr und längst auf das andere Ufer zusteuerte, als die beiden sich endlich hingesetzt hatten. Ich dachte schon, sie würde nicht mehr darauf zurückkommen, aber dann sagte sie doch, daß der Krieg für sie zuerst vor allem eines gewesen war, nämlich die Wehmut, etwas unwiederbringlich verschwinden zu sehen, selbst wenn es für sie ohnehin nie existiert hatte, und während sie auf einmal hilflos zu gestikulieren begann, vermochte sie ihren Blick nicht von dem breiter werdenden Wasserstreifen loszureißen, der uns von der Anlegestelle trennte. Es war nur ein Blubbern hinter dem Heck, und doch starrte sie darauf und sprach wie zu sich selbst, geradeso, als wäre sie zum ersten Mal auf diesen Widerspruch gestoßen und erwartete erst gar nicht, daß ich mich dafür interessieren könnte, geschweige etwas davon verstehen.
»Nicht daß es um das Land gegangen wäre«, sagte sie, und der Satz hatte ein weit offenes Ende. »Es ist etwas anderes gewesen.«
Dabei sah sie mich noch immer nicht an, und ich bin mir nicht mehr ganz sicher, aber ich glaube, kurz darauf muß sie die Konserven erwähnt haben, so lächerlich das klingt, die Fischdosen, von denen ihre Großmutter angeblich ein ganzes Vorratslager gehabt hatte, eine Holzkiste voll, die jahre-, wenn nicht jahrzehntelang unangetastet unter allerlei Gerümpel in ihrem Schuppen gestanden war. Dahinter verbarg sich zunächst nichts Besonderes, nur das übertriebene Horten von jemandem, der einen Krieg mitgemacht hatte und sich von einem Menschenleben gar nichts anderes vorstellen konnte, als daß es früher oder später in eine Katastrophe mündete, und ich erinnere mich, wie ich mich schon gefragt habe, worauf sie hinauswollte. Es waren die Aufschriften, und sie kostete jede Silbe aus, als sie endlich damit herausrückte, ich habe ihre Stimme noch in den Ohren, den triumphierenden Klang, und sehe sie selbst wieder vor mir, ihre Augen auf einmal doch auf mich gerichtet.
»Auf den Etiketten ist made in Yugoslavia gestanden, und der Witz war, daß es statt eines Verfallsdatums nur einen Zusatz gab, der dem Zeug unbegrenzte Haltbarkeit bescheinigt hat.«
Daraus ließ sich eine gute Geschichte machen, aber auch wenn sie damals manchmal den Eindruck gehabt hatte, es seien ohnehin alles nur Anekdoten, ob sie stimmten oder einfach so lange wiederholt wurden, bis es keine Rolle mehr spielte und sie ihr eigenes Recht hatten, blieben doch ein paar Tatsachen, die sie nicht übersehen konnte. Ob es ihr Vater war, der von Tag zu Tag stiller wurde und schließlich mit einem der hin- und herpendelnden Busse nach Dalmatien fuhr, um zu sehen, ob nicht Flüchtlinge stillschweigend das Haus besetzt hatten, die Reise trotz der anhaltenden Unsicherheit auf sich nahm, obwohl die Landverbindung unterbrochen war und die einzige Route über die Insel Pag führte, oder ob ihre Mutter wieder anfing, auf dem Markt in Altona herumzustreichen wie eine Obdachlose, nur weil sie hoffte, dort auf vertraute Gesichter zu stoßen, es wurde ihr ein weiteres Mal klar, egal, wohin sie sich auch aufmachte, und wäre es ans Ende der Welt, sie entkam ihnen nicht. Auf einmal war sie wieder auf eine Weise ihre Tochter wie schon seit einer Ewigkeit nicht mehr, und als sie gebeten wurde, ihre beiden Cousins aus der Lika eine Zeitlang bei sich aufzunehmen, Grünschnäbel noch, wie sie sagte, siebzehn und neunzehn, ohne ein Wort Deutsch, die von zu Hause geflohen waren, um der Einberufung zu entgehen, verbrachte sie ganze Abende mit ihnen, blieb beim Frühstück so lange sitzen, daß sie
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