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Das Handwerk des Toetens

Das Handwerk des Toetens

Titel: Das Handwerk des Toetens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Gstrein
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wenn sie nichts mehr langweilen könnte, als überhaupt darauf eingehen zu müssen. »Er hat es erwähnt.«
    Dann erzählte sie, es sei Freitag gewesen, und sie wäre nicht zur Arbeit gegangen, weil sie ohnehin nichts hätte tun können, so aufgeregt war sie.
    »Aus irgendeinem Grund ist es mir nicht gelungen, mich abzulenken wie sonst, und ich bin vor Anspannung fast um den Verstand gekommen.«
    Tatsächlich hatte es ja die fürchterlichsten Berichte gegeben, was man in dem Land vorfinden würde, Gerüchte von Zehn-, wenn nicht Hunderttausenden von Toten, in ihren Häusern oder auf der Flucht grausam umgebracht, Zahlen, die sich erst später als übertrieben herausgestellt hatten, und natürlich habe sie Angst um ihn gehabt. Es sei anders gewesen als die vielen Male, wo er sonst von ihr weggegangen war, in welches Kriegsgebiet auch immer, weil sie sich an dem Morgen, an dem er zum Flugzeug mußte, noch wegen irgendeiner Kleinigkeit gestritten hatten und sie allein schon deshalb den Gedanken nicht losgeworden war, was wäre, wenn sie ihn nicht mehr lebend wiedersehen würde, was für ein Abschied, sein Weggehen, wie er hinter der Absperrung verschwand, ohne ein Wort, ohne Umarmung und ohne daß er sich noch einmal nach ihr umgedreht habe. Da erst war ihr klar geworden, sie hatte sich in all den Jahren, die sie ihn kannte, nur etwas vorgemacht, wenn sie wirklich glaubte, sie hätte sich an seine Abwesenheiten gewöhnt, es sei immer nur ein wackliges Konstrukt gewesen, um nicht nachdenken zu müssen, und das Entsetzen, das sie packte, war auch ein Entsetzen über die verlorene Zeit, die oft blindlings ausgeklammerten Tage zwischen all seinen Abreisen und Ankünften, die Finsternis, um nicht zu sagen, das Nichts, zwischen zwei Küssen, die er ihr gab.
    Ihre Stimme war sanft geworden und blieb fast ganz weg, als sie erzählte, wie erleichtert sie gewesen sei, daß er sich am Tag vor dem Einmarsch dann wenigstens gemeldet habe.
    »Bei seinem letzten Anruf, bevor ich ins Bett gegangen bin, war es vielleicht zehn Uhr am Abend«, sagte sie erst nach einer Weile. »Da hat er aber nur schnell in den Hörer gesprochen, daß der Augenblick gekommen sei.«
    Dann muß er sich mit seinem Photographen dem Militärzug angeschlossen haben, der Richtung Grenze aufgebrochen war, der endlos erscheinenden Kolonne von gepanzerten Fahrzeugen, die manchmal nicht viel schneller als im Schrittempo vorankam, an der Menschenmenge vorbei, die jubelnd und Konfetti werfend am Straßenrand stand.
    »Anscheinend ist es ein richtiges Volksfest gewesen.«
    Es war erstaunlich, wie nüchtern sie darüber auf einmal wieder sprach, wie sie von den Flüchtlingen aus den Lagern weiter im Norden erzählte, von denen viele eine Zeitlang nebenher liefen und sich dann an den Konvoi zu hängen versuchten, offensichtlich erpicht, so schnell wie möglich in ihre Dörfer zurückzukehren, die sie in den vergangenen Wochen hatten verlassen müssen.
    »Manche von ihnen sollen fast nicht zu halten gewesen sein«, sagte sie. »Sie scheinen sich gebärdet zu haben, als kämen sie nach Jahren im Exil wieder heim.«
    Obwohl es von Skopje aus nur etwa dreißig Kilometer waren, dürfte es laut ihrer Darstellung weit nach Mitternacht geworden sein, bis Allmayer in dem Troß schließlich Blace erreichte, den letzten makedonischen Ort vor dem Kosovo. Das Lager dort war längst aufgelöst, das er zu Ostern noch besucht hatte, die notdürftig errichtete Zeltstadt auf dem offenen Feld, wo damals über die Feiertage ganze Scharen von Flüchtlingen, viele von ihnen unter freiem Himmel, mit kaum genug zu essen in der Kälte und im Regen festgehalten worden waren, und sie hatte recht, allein schon daß er überhaupt noch einmal dahin zurückkam, schien nichts als absurd zu sein. Wahrscheinlich verbrachte er den Rest der Nacht wartend im Auto, und sie malte sich aus, wie beim Tagwerden irgendwo vor ihm die Häuser aus der Dunkelheit hervorgetreten sein mußten, die sie später auf einem Photo gesehen hatte, die paar dachlosen, ausgebrannten Gebäude im Niemandsland, mit ihren schwarzen Fensterlöchern, lange nur Silhouetten, grau in grau, und die Schornsteine des zerstörten Zementwerks dahinter, bereits auf der anderen Seite der Grenze.
    Er habe zuerst nur gesagt, es sei schon hell, als er sie kurz vor fünf Uhr am Morgen wieder anrief, genauso wie manchmal, wenn er neben ihr im Bett gelegen und als erster wach geworden war. Seine Stimme klang belegt, sie habe ihn kaum verstanden und

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