Das Haus am Hyde Park: Roman (German Edition)
mir zurück. »Ich werde in den kommenden Jahren sehr viel Hilfe von dir brauchen, Ella, du musste also lernen, wie es geht.«
In den kommenden Jahren ? Mum zeigte mir noch einmal ganz genau, wie ich Jess zu halten hatte: eine Hand hier, den anderen Arm dort, als wäre es eine Wiege. Ich versuchte es. Jess war eine Sekunde lang still, zwei, sogar drei. Alle entspannten sich. Dann sah Jess zu mir auf. Ihr Gesicht schrumpelte in sich zusammen. Sie lief rot an. Der Mund ging auf. Das Klagen begann von Neuem. Noch lauter.
»Oh, Ella «, sagte Mum. Sie war ärgerlich. Ich begann wieder mit der Baby-Ruckelei – vergeblich.
»Offenbar ist sie allergisch auf dich«, meinte Charlie über das Gebrüll hinweg. Ich funkelte ihn wütend an. »Ich kann nichts dafür«, wehrte er ab. »Töte nicht den Boten.«
»Gib sie mir, Ella«, sagte Mum. Ich gehorchte. Das Weinen hörte sofort auf. Es begann das Gesäusel und Gehätschel. Mum lächelte, streichelte Jess’ Gesicht und schaltete in ihren übertriebenen Baby-Singsang um.
»Na siehst du, meine Jessie. Ist das besser? Natürlich ist das besser. Jetzt bist du ja bei Mami, mein kleiner Darling! Mein süßes, kleines Baby, ei, ei. Wer ist ein braves Mädchen, meine kleine Jessie? Wer? Du bist das, ganz genau. Braves Mädchen, Jessie.«
Jess gab ein niedliches, melodiöses Glucksen von sich. Das hasste ich in dem Moment mehr noch als ihr Weinen.
»Sie ist eindeutig allergisch auf dich, Ella«, sagte Charlie. »Die Alternative – sie hasst dich.«
Es war als Scherz gemeint, doch das machte keinen Unterschied. Ein heißes, wildes Gefühl stieg in mir auf – Schmerz, Wut, Eifersucht. Zu meinem eigenen Entsetzen, zum Entsetzen von Charlie und Mum, fegte ich das Puzzle vom Tisch und tobte.
»Ich bin allergisch auf sie ! Ich hasse sie ! Ich hasse euch alle !« Ich stürmte aus dem Zimmer und knallte die Tür zu. Hinter mir erklang erneut Geheul.
Das war mir egal. Sie alle waren mir egal, alles war mir egal. Wie auch nicht? Ich war ihnen auch egal. Ich reagierte nicht, als Mum mir nachrief, ich solle sofort zurückkommen und mich entschuldigen. Ich rannte in mein winziges Zimmer, warf mich auf den Boden und kroch unter das Bett, ganz weit, bis dicht an die Wand. Der Teppich scheuerte an meinen nackten Beinen und an meinem Gesicht. Da erst begann ich zu weinen, heiße Tränen. Ich hörte, wie die Tür geöffnet und das Licht eingeschaltet wurde. Ich sah Mums Füße. Ich machte die Augen zu und verhielt mich mucksmäuschenstill, bis die Tür wieder geschlossen wurde. Die Tränen flossen weiter, doch ich gab keinen Laut von mir. Minuten später ging die Tür erneut auf. Ich hielt den Atem an. »Ella?« Wieder Mum. »Ella? Ich weiß, dass du da bist. Komm sofort raus und entschuldige dich.« Ich rührte mich nicht.
Ich reagierte auch nicht, als Charlie kurze Zeit später in mein Zimmer kam. Und wieder nicht, als es Mum ein drittes Mal versuchte. Mit Jess im Arm. Das hörte ich an dem leisen Schluckauf-Atem. »Ella, ich weiß, dass du dich unter dem Bett versteckst. Mit diesem kindischen Benehmen muss ein für alle Male Schluss sein, hörst du?«
Ich blieb ganz still liegen, bis sie wieder gingen. Ich wartete eine Weile, dann weinte ich erst richtig los. Ich heulte und schluchzte zugleich. Ich konnte mich nicht mehr bremsen. Ich weinte um alles Traurige, das mir in den Sinn kam, um alles Schmerzhafte, an das ich mich erinnern konnte. Ich weinte um meinen Vater, um seinen Weggang, um die Scheidung. Ich weinte um Lucas’ traurigen Babyfuchs. Um eine schlechte Note bei einer Klassenarbeit. Den Verlust meines Zimmers. Am meisten aber weinte ich, weil es einfach nicht zu leugnen war. Mum hatte Jess viel lieber als mich.
Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen war, wie lange ich unter dem Bett gelegen hatte – eine Stunde, womöglich auch viel länger. Vor der Tür erklangen Stimmen, Walter kam nach Hause, das Abendessen wurde vorbereitet, der Fernseher lief. Ich verharrte auf dem Boden, in meinem dunklen Zimmer, das Gesicht auf dem Teppich. Schließlich kroch ich unter dem Bett hervor. Ich ging nicht ins Badezimmer, putzte mir nicht die Zähne, nichts. Ich legte mich einfach ins Bett, in meinen Kleidern. Ich hatte Hunger, aber das ließ sich nicht ändern. Ich hätte gern noch mehr geweint, doch ich hatte keine Tränen mehr. Ich wartete darauf, dass Mum oder Walter oder wenigstens Charlie nach mir sehen würden, doch niemand kam. Irgendwann schlief ich ein.
Um sechs Uhr wurde
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