Das Haus am Hyde Park: Roman (German Edition)
sogar noch viel schlimmer gemacht. Alle haben gesagt: »Das tut mir leid, das tut mir so leid, ach Jess, du Arme.« Und ich konnte mich nicht bremsen, ich habe immer wieder gesagt: »Das war ein Unfall, das war nicht meine Schuld, ich habe das doch nicht absichtlich getan.« Und ein Mädchen hat dann mal gemeint: »Klar war das ein Unfall. Wer würde so was Furchtbares absichtlich tun?« Danach habe ich mir ein paar Tage freigenommen, und Mum ist wieder in die Schule gegangen und hat mit dem Leiter geredet, und danach ist es etwas besser geworden – danach hat niemand mehr davon gesprochen, und ich war erleichtert, na ja, ziemlich. Nur an einem Abend, da waren wir auf einer Party zum Semesterabschluss und ein paar Leute hatten was getrunken, da ist dieser Typ, der echt fies sein kann, wenn er was getrunken hat, zu mir gekommen – ich glaube, der war schon immer ein bisschen in mich verknallt, der wollte ein paar Mal mit mir ausgehen, und ich habe immer Nein gesagt –, also an dem Abend ist er zu mir gekommen und hat gesagt: »Das war ja echt ein hartes Jahr für dich, Jess.« Und ich: »Ja, das war es«, denn auch das hat mir meine Therapeutin geraten, zugeben, was passiert ist, damit es mir leichter fällt, es zu akzeptieren. Mehr habe ich nicht gesagt. Ich hatte geglaubt, der Typ wäre nett und verständnisvoll, aber er hat immer weitergebohrt, und irgendwann hat er gefragt: »Also, was ist wirklich passiert?«
»Es war ein Unfall«, habe ich geantwortet.
»Aber ich meine, danach. Was hat deine Schwester gesagt?«
An der Stelle habe ich ihn unterbrochen. »Sie ist meine Halbschwester.« Ich weiß bis heute nicht, wieso ich das gesagt habe. Ich glaube, ich wollte ihn bloß am Reden hindern.
Und er: »Okay, was hat deine Halbschwester danach gesagt?«
»Was glaubst du wohl?«, habe ich so ruhig es ging gefragt. Der wollte mich ganz klar provozieren, und da wollte ich nicht mitmachen. Also habe ich geschauspielert. Und zwar richtig. Ich habe mich wahnsinnig zusammengerissen und so getan, als würde mir die Frage überhaupt nichts ausmachen, versucht zu überspielen, wie es mir wirklich ging, denn am liebsten wäre ich heulend weggelaufen, aber all die anderen haben rübergesehen und getuschelt, und ich hatte das ungute Gefühl, dass ihn jemand angestachelt hatte, um zu sehen, ob sie mich aus der Fassung bringen könnten.
Dann hat er gesagt: »Sie muss dich echt hassen.«
Da musste ich nicht groß nachdenken. »Ja, das tut sie«, habe ich gesagt.
Er war dann doch ein bisschen schockiert, weil ich so cool reagiert habe. Aber das war nicht schwer. Ich habe bloß die Wahrheit gesagt. Ella hasst mich wirklich.
Aber dann hat der noch immer keine Ruhe gegeben. »Was ist mit dem Vater des Babys? Hasst der dich auch?«
Da habe ich es nicht mehr ausgehalten. Da habe ich ihm dann gesagt, er solle sich um seinen eigenen Kram kümmern. Und bin früh gegangen.
Eine Woche später war es wieder Thema. Und da war es noch viel schlimmer. Ich war auf der Toilette, als zwei Mädchen reingekommen sind und über mich gesprochen haben, sie hätten da ein Gerücht gehört, ich hätte eine Affäre mit Aidan gehabt, und Ella hätte das rausbekommen, es hätte einen furchtbaren Streit gegeben, und dann hätte ich mir in einem Anfall von Eifersucht ihr Baby geschnappt und …
Ich hätte nie gedacht, dass Menschen so grausam sein können.
Ich bin so froh, dass ich hier wegkomme. Nicht nur aus dem College, sondern auch aus Melbourne, aus Australien. Ein Neuanfang in London wird mir guttun. Es ist echt so aufregend! Morgen gehen Mum und ich shoppen, und heute Abend schaue ich mir mit Dad auf Google Earth an, in welchem Viertel ich mir ein Apartment mieten könnte. Er hat zwar noch nicht gesagt, dass er mir die Miete zahlen wird, doch ich habe da ein ziemlich sicheres Gefühl! Aber erst mal bringt er mich in einem Hotel unter, bis ich mich in London ein bisschen eingelebt habe. Er ist so stolz auf mich. Das sagt er mir ständig. Das ist SO süß.
Zeit für meinen Schönheitsschlaf. Gute Nacht, liebes Tagebuch!!!
Jess xxxxoooo
Kapitel 10
In Washington D. C. waren es zwei Grad unter null.
Als Aidan O’Hanlon aus dem Convention Center kam, klappte er den Mantelkragen hoch. Er ging durch die 7th Street und wich einer Gruppe älterer japanischer Touristen aus, die einem Bus entstiegen. Er lebte nun seit einem Monat in der Stadt, doch noch immer überraschte ihn der eine oder andere Wetterumschwung. Am Tag zuvor hatte er sich in
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