Das Haus am Hyde Park: Roman (German Edition)
der Stadt noch wie im Pariser Frühling gefühlt, die majestätischen Gebäude, die Boulevards und Parks hatten in der Sonne gebadet, auf den Straßen hatten sich die Menschen gedrängt, Touristen ebenso wie Einheimische. Nun aber war der Himmel trüb und grau, der Wind schneidend und die Stimmung auf der Straße harsch und nicht entspannt.
Er hatte Kopfschmerzen von der Kälte und den vielen Stunden höchster Konzentration. Sein neuer Job bei einer der größten Übersetzungsagenturen der Stadt war gut dotiert, doch die Tage waren lang und fordernd. Er musste zwischen all seinen Sprachen hin- und herwechseln, zwischen Französisch, Spanisch, Italienisch und Deutsch, häufig musste er bei Konferenzen, Handelsgesprächen und Interviews dolmetschen, und die Themen waren vielfältig: Sie reichten vom Kulturaustausch über Einfuhrbestimmungen bis zur internationalen Verkehrssicherheit.
Seine heutige Kundin, eine Repräsentantin der italienischen Textilindustrie, war aus Mailand gekommen, um in Washington über Zölle und Einfuhrbestimmungen zu diskutieren. Es war ein erfolgreicher Tag gewesen, und so hatten sie im Anschluss noch etwas getrunken. Schon während des ersten Drinks war Aidan bewusst geworden, dass seine Klientin, Ende dreißig, mehr an ihm als an seinen Sprachkenntnissen interessiert war. Er hatte die üblichen Höflichkeitsfloskeln aufgesagt und war gegangen.
So etwas passierte nicht nur ihm. Das Dolmetschen konnte recht intim sein. Nicht bei Konferenzen, wenn die Dolmetscher in einer Box über dem Sitzungssaal saßen und simultan für all die Delegierten übersetzten, die kein Englisch sprachen und nur auf einen Knopf drücken mussten, um das Geschehen in ihrer Muttersprache zu verfolgen. Beim persönlichen Dolmetschen aber, so wie heute, war der Kontakt sehr eng, wenn der Dolmetscher viele Stunden an der Seite seines Kunden saß und ihm leise ins Ohr sprach. Er musste sich konzentrieren, zuhören, übersetzen. Jedes Wort war wichtig, und für jedes Wort musste er die richtige Bedeutung finden. Ein Dolmetscher konnte sich auch nicht wirklich vorbereiten. Einmal hatte Aidan einen italienischen Schriftsteller einen ganzen Tag lang auf Promo-Tour durch Großbritannien begleitet. Er war kurzfristig für einen befreundeten Kollegen eingesprungen und hatte keine Zeit gehabt, das fragliche Buch zu lesen, eine Studie über die Dichtung der Renaissance, war aber während dieser acht Stunden und sechs Interviews im Crashkurs zum Experten geworden und hatte Gedanken und Theorien übersetzen müssen, an denen der Autor über zehn Jahre lang geforscht hatte. Innerhalb von Stunden war alles wieder vergessen.
»Du bist wie ein Schmetterling«, hatte Ella einmal gescherzt. »Du flatterst von Thema zu Thema, von Blume zu Blume.«
Ella.
All seine Gedanken führten zu Ella.
Er ging zu seinem Apartment. Es war klein, aber komfortabel, und lag im Erdgeschoss eines Hauses auf der P Street, in der Nähe des Logan Circle. Er warf seinen Mantel auf das Sofa, zog sich die Krawatte aus und schüttete sich ein Bier ein. Er zündete sich eine Zigarette an, die er langsam, bibbernd, auf dem kleinen Balkon rauchte. Er hatte seinem Vermieter gesagt, er sei Nichtraucher, und so sah er sich auch. Die eine Zigarette zählte nicht. Das war ein Ritual, keine Gewohnheit. Da war ein Unterschied.
Danach ging er in die Küche. Der Kühlschrank war so gut wie leer. Es gab zu viele Restaurants mit Take-away-Service in der Nähe. Die meisten Speisekarten kannte er schon auswendig. Sein Feierabend war streng reglementiert. Eine Zigarette, ein Bier, Abendessen, eine Stunde schreiben, ins Bett. Dieser Rhythmus beruhigte ihn. So kam er durch den Tag.
Als er zum Telefon griff, um das Essen zu bestellen, sah er, dass der Anrufbeantworter blinkte. Aidan fragte sich, warum ihn die Agentur nicht auf dem Handy angerufen hatte. Selbst seine Mutter rief ihn nur noch auf dem Handy an. Er drückte auf die Wiedergabetaste.
»Aidan, hier ist Lucas.« Pause. »Lucas aus London. Kannst du mich bitte anrufen?«
Es ging um Ella. Ella war etwas zugestoßen. Einen anderen Grund konnte es für diesen Anruf nicht geben. Aidan holte sein Adressbuch und suchte nach Lucas’ Nummer. Seine Hände zitterten. Nach zwei Fehlversuchen wählte er endlich die richtige Vorwahl. Beim dritten Läuten kam Lucas an den Apparat.
Aidan fiel ihm gleich ins Wort. »Lucas, hier ist Aidan. Geht es um Ella? Ist irgendetwas …«
»Es geht ihr gut, Aidan. Sie ist bei mir.«
»In
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