Das Haus am Leuchtturm: Roman (German Edition)
der hastig gezeichneten Wegbeschreibung zurechtkam, die Berenice ihr mitgegeben hatte. Sie bemerkt die vielen Kleider auf dem langen, straff gepolsterten Sofa.
»Das sind lauter alte Kleider von mir, die nicht mehr passen. Adelaide wird Ihre Maße nehmen und alle für Sie ändern.«
Isabella schüttelt den Kopf. »Das kann ich unmöglich …«
»Ach, Unsinn. Natürlich können Sie das. Ich werde sie nie wieder tragen, sie verstauben nur im Kleiderschrank.«
Isabella schaut sie verblüfft an. Es muss ein ganzes Dutzend Kleider sein. »Das kann ich nicht annehmen. Dann würde ich mich Ihnen zu sehr verpflichtet fühlen.« Aber sie möchte sie haben, unbedingt. Sie trägt seit Monaten dieselben alten Kleider, und das Stadtkleid fällt schon an den Nähten auseinander. Sie hat nie richtig Nähen gelernt. »Ich wäre allerdings sehr dankbar für ein neues Kleid.«
»Suchen Sie sich drei oder vier aus«, drängt Berenice. »Ich möchte nicht, dass Sie sich unwohl fühlen, aber eine schöne junge Frau braucht mehr als zwei schlechtsitzende Kleider.«
Isabella kann ein Lächeln nicht unterdrücken, als sie die Stücke betrachtet. Sie sieht sich schon in einigen davon auf dem Schiff nach Amerika: aufwendig verzierte Teekleider, Hemdblusenkleider mit langer Schleppe, hauchdünne weiße Sommerkleider mit fließenden Ärmeln und weißer Stickerei. Dann schließt Berenice die Tür ab, und Isabella zieht sich aus, damit Adelaide ihre Maße nehmen kann. Berenice plaudert drauflos, während Isabella nacheinander vier Kleider anprobiert, in denen sie sich drehen und wenden muss, während sie mit Nadeln abgesteckt werden. Dann zieht Adelaide mit einem Berg teurer Stoffe von dannen.
»Wir brauchen sie morgen früh«, sagt Berenice in warnendem Ton.
»Ja, Ma‘am. Sie können sich auf mich verlassen.«
Berenice dreht sich zu Isabella. »Morgen trinken wir mit einigen Freundinnen Tee. Sie sind natürlich eingeladen. Ich möchte, dass Sie sie kennenlernen.«
»Es wäre mir ein Vergnügen.« Ein Plan keimt in ihr. Berenice’ Freundinnen sind allesamt reich und tun, was sie sagt. Wenn sie ein Armband und eine Brosche von Mary Harrow trägt, könnte sie vielleicht jemanden überreden, eins der verbliebenen Stücke zu kaufen.
Berenice legt den Kopf schief und lächelt. »Sie haben so etwas Liebreizendes, Mary Harrow. Ich kann es gar nicht richtig erklären.«
Isabella lächelt.
»Kommen Sie. Ich zeige Ihnen das Haus.« Sie hakt Isabella unter und führt sie aus dem Wohnzimmer in den mit Parkett ausgelegten Flur. »Mein Mann hat Bilder gesammelt.« Sie deutet auf eine Reihe aufwendig gerahmter Porträts. »Ich selbst verstehe die Faszination nicht so ganz. Gemalte Leute sind nie so interessant wie echte.«
»Kennen Sie sie alle?«
»Es waren Freunde und Verwandte meines Mannes. Die meisten Namen habe ich vergessen. Aber kommen Sie mit, ich zeige Ihnen das Beste.« Sie führt Isabella durch eine zweiflügelige Tür in eine Bibliothek. Eine Wand wird vom gewaltigen Porträt eines freundlich aussehenden Mannes beherrscht, um dessen Lippen ein Lächeln spielt. »Das ist er. Mein lieber verstorbener Ehemann.«
»Er sieht freundlich aus.«
»Oh, er war ein Schurke. Keine Spur von Freundlichkeit. Kinder hatten Angst vor ihm. Aber ich habe ihn geliebt und trauere noch immer um ihn. Wie ist es mit Ihnen? Trauern Sie noch um Ihren Ehemann?« Berenice fixiert Isabella. »Nein, sagen Sie nichts. Ich erkenne es auch so.«
Isabellas Gesicht brennt vor Scham. »Jeder trauert auf seine Weise«, murmelt sie.
»In der Tat. Ich vermisse meinen Mann jeden Tag, bin aber im Grunde ohne ihn besser dran. Er konnte überhaupt nicht mit Geld umgehen.« Berenice wird still, als sie das Porträt betrachtet. »Ich glaube nicht, dass ich noch einmal heirate. Allein geht es mir besser.«
»Sie sind doch nicht allein. Sie haben so viele Freunde.«
»Meinen Sie, Sie heiraten noch einmal?«
Isabella denkt an Matthew.
Ein Funkeln tritt in Berenice’ Augen. »Es gibt jemanden, nicht wahr? Das sehe ich Ihnen an.«
»Ich bin mir nicht sicher, was die Zukunft bringt.«
»Wieder so eine rätselhafte Bemerkung.«
»Ich wollte nicht rätselhaft sein.«
»Wer immer er ist, er wird auch seine Fehler haben. Und Sie als Frau werden darüber hinwegsehen. Er wird zornig sein oder eitel oder Ihren Körper behandeln, als gehöre er ihm allein. Die Männer sind alle gleich, meine Liebe. Alle.«
Isabella denkt über die Worte nach und weiß, dass Berenice unrecht
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