Das Haus am Leuchtturm: Roman (German Edition)
sie die dünne Frau nicht gesehen, ergreift seine Hand und zieht ihn mit sich. Er steht auf, wirft die steife Serviette auf den Tisch und folgt ihr. Die Tische leeren sich, die Gäste begeben sich auf die Tanzfläche. Meist bleiben Männer sitzen und trinken, dazu einige ältere Frauen mit straff gelegten Locken und ebenso straffer Miene. Das Orchester spielt einen lebhaften Walzer, und die Damen und Herren in den schönen Kleidern bewegen sich in gemessenem Rhythmus über das Parkett. Isabella und Matthew gehen zu der großen Doppeltür, die in die Eingangshalle führt, und atmen tief durch, als sie zwischen den tropischen Pflanzen im Innenhof stehen.
»Oh Gott, ich bin erschöpft«, sagt Isabella.
Er nimmt sie in die Arme, und sie sucht im rauhen Stoff seiner Jacke Trost, horcht auf seinen Herzschlag. Er streicht ihr sanft über die Haare.
Sie tritt zurück und schaut ihn im Licht an, das sich an den Kronleuchtern in der Halle bricht. »Du musst noch erschöpfter sein als ich.«
»Das ist doch kein Wettbewerb«, sagt er ein wenig mürrisch, wie er es schon den ganzen Abend gewesen ist.
Isabella blickt über die Baumwipfel in den Himmel empor. Es ist ein wolkenloser Abend, und die Sterne sehen aus wie weißer Staub, den eine achtlose Hand über das Dunkelblau gestreut hat. Bald wird sie von irgendwo anders auf dieser Erde zu denselben Sternen aufblicken. Zum ersten Mal fragt sie sich, was Matthew ohne sie anfangen wird. Ob sie einander schreiben werden. Ob sie einander weiter unter demselben Himmelszelt lieben werden, selbst wenn sie voneinander getrennt sind. Sie hat diese Liebe immer nur als flüchtig betrachtet: ein kurzer Ausbruch voller Leidenschaft und Farbe, der aufblüht und ebenso schnell wieder erlischt. Doch es wird ein Danach geben, und sie fragt sich, wie sich dieses Danach wohl anfühlen mag.
Sie greift nach seinem Revers. »Erzähle mir, wann du dieses Jackett zum ersten Mal getragen hast.« Sie hat ihn noch nicht nach seiner Frau gefragt. Eine Mischung aus Eifersucht und Angst hat ihre Zunge gelähmt. Doch heute Abend möchte sie alles über ihn erfahren.
Er wird nachgiebiger, die Schroffheit löst sich auf. »Ich war vierundzwanzig, als ich Clara geheiratet habe. Sie war zwanzig. Die Tochter eines Teehändlers. Ich war Lehrer in der Dorfschule. Wir haben uns verliebt.« Ihm versagt die Stimme. Isabella fällt es schwer, sich das anzuhören, sehr schwer. Wenn sie über Arthur spricht, versagt ihr beim Wort »verliebt« nie die Stimme.
»Wir haben an einem Sommernachmittag in der Dorfkirche geheiratet«, fährt er fort. »Es war warm, und alle Fenster standen offen, und draußen vor dem Fenster blühte ein Frangipani. Irgendwann kam ein rauher Wind auf und wehte einige Blüten zwischen die Kirchenbänke. Ich werde den Duft von Frangipani für immer mit meiner Hochzeit verbinden. Wächsern und süß.« Er schließt flüchtig die Augen, als könne er ihn gerade jetzt riechen. Dann öffnet er sie wieder. »Clara war nicht wie die anderen Mädchen. Sie hatte eine unbezähmbare Wildheit in sich. War selbstsüchtig. Obwohl sie den Körper einer Frau und die Intelligenz einer Erwachsenen besaß, war sie vom Willen und Temperament her wie ein Kind. Ich war verliebt, und meine Liebe war blind, und sie schüchterte mich rasch mit ihren Forderungen und ihrer scharfen Zunge ein. Wenn sie grausam gewesen war, verhielt sie sich am nächsten Tag wie der Sonnenschein, entschuldigte sich ständig und war ganz sanft. Wir gerieten in einen Kreislauf aus Verachtung und Vergebung, bis ich es eines Tages müde wurde und …« Er holt tief Luft und fährt sich mit der Hand über den Bart. »Eines Tages sagte ich: ›Es reicht, Clara.‹ Ich verlangte, dass sie dieses Mal, nur dieses eine Mal, das tun würde, was ich wollte. Sie verschwand. Tagelang. Sie kehrte zurück, weil sie krank wurde, und an dieser Krankheit ist sie kurz danach gestorben.«
»Es tut mir so leid«, sagt Isabella. Sie spricht nicht aus, was sie sonst noch denkt: Clara erscheint ihr wie ein Ungeheuer, das Matthews Geist irgendwann gebrochen hätte. Dann lässt die leise Angst, die die Eifersucht in ihr hervorruft, sie fragen: »Liebst du sie noch?«
Er runzelt die Stirn, als er über die Frage nachdenkt. »Es scheint ein ganzes Leben her zu sein. Es ist nicht, als würde ich sie nicht mehr lieben. Aber Liebe scheint mir etwas Helles und Gegenwärtiges zu sein, und das ist nicht das, was ich für Clara empfinde.«
Beide schweigen einen Moment.
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