Das Haus am Nonnengraben
Vinden an seinen Tisch trat, Abteilungsleiter bei der Deutschen Bank, ein sportlicher, freundlicher junger Mann, den Benno vom Tennisclub kannte.
»Ist bei dir noch frei?«, fragte er.
»Ja, setz dich«, sagte Benno und rückte sein Glas etwas zur Seite. »Ich wollte eigentlich Hauptkommissar Sinz treffen, aber der hat mir gerade gesimst, dass er’s nicht schafft.«
»Der war heute früh bei mir und hat sich nach Elfi Rothammer erkundigt.«
»Hast du Frau Rothammer denn gekannt?«
»Ich war seit vielen Jahren ihr Kundenberater. Ich war der Einzige, der mit ihr zurechtkam. Sie war, nun ja, sehr eigenwillig. Aber wenn man ihre Kratzbürstigkeit erst einmal durchschaut hatte … Weißt du, sie war ein sehr einsamer Mensch. Und sie muss früher einmal sehr schön gewesen sein. Es hat mich total umgehauen, dass sie tot sein soll.«
Die Kellnerin trat an den Tisch, und Franz van Vinden bestellte zerstreut das Börsengericht des Tages. Sie war schon fast am Tresen, da rief er ihr nach: »Und ein Mineralwasser, bitte.«
»Na, ob sie das bei dem Krach hier gehört hat?«, bezweifelte Benno. Der hohe Raum mit den schweren Stuckdecken brodelte wie üblich vom Gespräch vieler Menschen. »Wann hast du Frau Rothammer denn das letzte Mal getroffen?«, wollte Benno wissen.
»Das hat mich der Kommissar auch gefragt. Laut meinem Computer war das am 15. Juli. Da hatten wir ein längeres Beratungsgespräch.«
»Wirkte sie da auf dich anders als sonst, beunruhigt zum Beispiel?«
»Nein, nicht beunruhigt. Aber unruhig schon. Sie war irgendwie zappelig, fast als erwartete sie etwas, wie ein Kind vor Weihnachten. Und sie fragte mich, ob sie für jemand anderen ein Konto eröffnen könne und welche Unterlagen sie dafür brauche.«
»Hat sie gesagt, für wen?« Benno nahm dankend seine Bratwürste entgegen.
»Nein, sie hat irgendwie geheimnisvoll getan, aber einmal sprach sie von ›dem Mädchen‹. Mehr hat sie nicht gesagt.«
»Deine Abteilung ›Private Banking‹ kümmert sich doch, wenn ich mich recht erinnere, um Kunden der gehobenen Einkommensklasse. Hat Frau Rothammer denn dazugehört?«
»Das kann man wohl sagen. Sie hat ein … sie hatte ein ansehnliches Vermögen. Und sie hat etwas daraus gemacht. Diese Frau hatte ein unglaubliches Gespür für Geschäfte. Wenn ich mir unsicher war, was ich kaufen oder verkaufen sollte, habe ich mich oft an das gehalten, was sie getan hat, und es war fast immer gut. Dabei hatte sie als Informationsquelle wohl nur ihren Fernsehapparat, keine Fachzeitschriften, kein Internet, keine Börsendaten … Sie konnte riechen, wohin etwas lief.«
Die Kellnerin brachte das Essen, und van Vinden schaute bestürzt auf seinen Teller. »Habe ich das bestellt? Zwiebel?«
»Ober sicher«, gab die Kellnerin spitz zurück. »Des Börsengericht vo heut: Gfüllta Zwiefel und Salat!«
Der junge Mann begann resigniert zu essen, bemerkte aber nach dem ersten Bissen: »Ach, eigentlich gar nicht so schlecht.«
»Esse ich auch oft«, meinte Benno, kam dann jedoch auf sein Thema zurück. »Was hat Frau Rothammer denn mit ihrem Geld gemacht?«
»Oh, das ist ein besonderes Kapitel. Sie hat mir zwar verboten, jemals mit jemandem darüber zu sprechen. Aber jetzt ist sie ja tot. Und es schadet ihr auch nicht, im Gegenteil. Weißt du, Frau Rothammer war eigentlich eine Art Heilige. Für sich selbst hat sie ja fast nichts mehr gebraucht. Sie hat den gesamten Gewinn, den sie erzielte, an Flüchtlingsorganisationen gegeben.«
»An Flüchtlingsorganisationen? Wieso denn das?«
»Siehst du, du weißt auch nicht, was für ein Problem das ist. Fünfzig Millionen Menschen auf der Welt sind auf der Flucht vor Hunger, Folter oder Krieg. Und in den ärmsten Ländern ist es am schlimmsten. In Guinea zum Beispiel kommen, wenn ich mich recht erinnere, neunzig Flüchtlinge auf tausend Einwohner. In der EU sind es grade mal sechs. Und wir machen ein Theater, als würden die Asylanten uns morgen die Haare vom Kopf fressen.«
»Das wusste ich wirklich nicht«, sagte Benno betroffen.
Franz van Vinden schnaubte. »Am ärgsten trifft es immer die Kinder. Das musst du dir mal vorstellen: So viele entwurzelte Kinder, ohne Eltern, ohne Geschwister! Was wird denn später aus denen? Was das für die Zukunft, auch für uns, bedeutet!«
»Woher weißt du das denn alles?«
»Durch Frau Rothammer. Sie hat sehr genau Bescheid gewusst, hat sich immer ausgiebig informiert, mich um Downloads aus dem Internet gebeten und dementsprechend den
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