Das Haus an der Düne
die bittersten Vorwürfe. Ich, Hercule Poirot, war an Ort und Stelle und habe das Verbrechen nicht verhindert!»
«Niemand hätte es verhindern können.»
«Sie sprechen ohne Überlegung, Hastings. Kein normaler Mensch hätte es verhindern können – aber wozu bin ich dann Hercule Poirot, dessen graue Zellen nun einmal besser funktionieren als die anderer, wenn mir nicht gelingt, was der Durchschnittsmensch nicht vermag?»
«Nun, ja, natürlich, wenn Sie es so formulieren…»
«Ja, in der Tat. Ich fühle mich niedergeschlagen, mutlos – völlig gedemütigt.»
Es schoss mir durch den Kopf, dass Poirots Demütigung eine merkwürdige Ähnlichkeit mit dem hatte, was man bei anderen Leuten Überheblichkeit nannte, ich hütete mich allerdings vor einer Bemerkung in dieser Richtung.
«Und nun», sagte er, «en avant. Nach London.»
«London?»
«Mais out. Wir erreichen ganz bequem den Zwei-Uhr-Zug.
Hier ist jetzt alles friedlich. Mademoiselle befindet sich im Sanatorium in Sicherheit. Niemand kann ihr etwas antun. Daher können die Wachhunde sich einen kleinen Urlaub gönnen. Ich brauche noch ein oder zwei kleine Informationen.»
Unser erster Gang in London führte uns zu der Anwaltsfirma Messr. Whitfield, Pargiter & Whitfield, der Kanzlei, die den verstorbenen Captain Seton vertrat.
Poirot hatte bereits einen Termin vereinbart, und obwohl es nach sechs Uhr war, wurden wir ohne Verzug zum Chef der Kanzlei, Mr Whitfield, geführt.
Er war ein Mann von Welt und eine eindrucksvolle Persönlichkeit. Vor ihm lagen ein Brief des Polizeichefs und ein zweiter von einem hohen Beamten von Scotland Yard.
«Das alles ist sehr regelwidrig und ungewöhnlich, Monsieur – äh – Poirot», sagte er und putzte angelegentlich seine Brillengläser.
«Da haben Sie vollkommen Recht, Mr Whitfield. Andererseits ist Mord ebenfalls regelwidrig – und erfreulicherweise eher ungewöhnlich.»
«Wie wahr, wie wahr. Doch ist eine Verbindung zwischen diesem Mord und dem Vermächtnis meines verstorbenen Klienten nicht etwas weit hergeholt?»
«Das glaube ich nicht.»
«Ach, das glauben Sie nicht. Nun – unter diesen Umständen – und ich muss zugeben, Sir Henry bittet mich in seinem Brief nachdrücklich darum – stehe ich – äh – gerne – zu Diensten, soweit es in meiner Macht steht.»
«Sie waren der Rechtsbeistand des verstorbenen Captain Seton?»
«Der gesamten Familie Seton, mein verehrter Herr. Das sind wir – ich meine unsere Firma – bereits seit hundert Jahren.»
« Parfaitement. Hat der verstorbene Sir Matthew ein Testament gemacht?»
«Wir haben es für ihn aufgesetzt.»
«Und wem hinterließ er sein Vermögen?»
«Es gab verschiedene Liegenschaften, darunter eine an das Naturhistorische Museum, aber der Löwenanteil seines großen – besser gesagt, seines riesigen Vermögens fiel an Captain Michael Seton als Alleinerben. Er war sein einziger Verwandter.»
«Ein sehr großes Vermögen, sagen Sie?»
«Der verstorbene Sir Matthew war der zweitreichste Mann Englands», erwiderte Mr Whitfield gelassen.
«Wie ich hörte, hatte er ein wenig verschrobene Ansichten.»
Mr Whitfield blickte Poirot beinahe tadelnd an.
«Ein Millionär, Monsieur Poirot, darf exzentrisch sein. Es wird von ihm geradezu erwartet.»
Poirot nahm diese Belehrung gutmütig hin und stellte die nächste Frage.
«Soviel ich weiß, trat sein Tod unerwartet ein?»
«Völlig unerwartet. Sir Matthew erfreute sich einer ausgezeichneten Gesundheit. Er hatte allerdings einen Tumor, von dem niemand gewusst hatte. Schließlich wurde er lebensbedrohlich und ein sofortiger Eingriff war nötig. Die Operation verlief, wie in den meisten dieser Fälle, erfolgreich. Aber Sir Matthew starb dennoch.»
«Und sein Vermögen ging an Captain Seton über.»
«Das ist richtig.»
«Ich habe gehört, dass Captain Seton, bevor er England verließ, ein Testament gemacht hat.»
«Wenn man es so nennen will, dann ja», sagte Mr Whitfield mit großem Widerwillen.
«Ist es denn nicht rechtmäßig?»
«Es ist völlig legal. Die Absicht des Verfassers ist klar und es ist von zwei Zeugen unterzeichnet. Oh ja, rechtmäßig ist es.»
«Aber es findet nicht Ihre Billigung?»
«Mein verehrter Herr, wofür wären wir denn sonst da?»
Das hatte ich mich auch schon oft gefragt. Ich habe selbst einmal ein völlig formloses Testament verfasst und war entsetzt über die erschöpfend ausführliche und wortreiche Version, die mir meine Anwaltskanzlei später als angemessen
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