Das Haus an der Klippe
Wollte er es nicht kapieren? Hatte er Sprachprobleme? Kam er von einem anderen Stern? Oder war er einfach strunzdumm?
Da griff Wendy auf jenen Sprachmodus der Mittelklasse zurück, der für all diese Widrigkeiten Abhilfe bot.
Überlaut und deutlich sagte sie: »Alte Frau muß auf Toilette. Du verstehen, Toi-let-te? Müssen. Pipi. Verstehen Pipi?«
Der kleine Ajax schüttelte den Kopf. Ob er damit andeuten wollte, daß er Pipi nicht verstand oder daß es ihm völlig egal war, blieb unklar.
Wendy erhob sich langsam und half der kraftlosen alten Dame auf.
»Toilette«, sagte sie entschlossen und deutete auf die Tür. »Pipi.«
Jetzt begriff der kleine Ajax allmählich, zeigte sich aber unbeeindruckt. Ärgerlich schüttelte er den Kopf und fuchtelte bedrohlich mit seiner Waffe.
»Es ist dringend«, erklärte Wendy und setzte sich in Bewegung.
Ellie hatte den Eindruck, daß er tatsächlich erwog, Wendy zu erschießen, sich dann aber damit zufriedengab, seinen abschreckenden Körper zwischen den beiden und der Tür zu plazieren.
Wendy nötigte die alte Frau, noch einen Schritt zu tun, blieb dann stehen, betrachtete die Waffe, die sich jetzt zielgenau auf ihre Brust richtete, und sagte: »In Ordnung. Aber sie muß mal. Dann da drüben in der Ecke.«
Während sie sprach, führte sie eine kleine Pantomime vor, die einerseits deutlich, andererseits aber auch so diskret wie möglich war.
Meine Güte, dachte Ellie und erinnerte sich, was sie selbst auf der Terrasse erlebt hatte. Was für unwürdige Dinge uns unser eigener Körper aufzwingt!
Das Gesicht des kleinen Ajax gab außer der Aggressivität, die anscheinend sein natürlicher Ausdruck war, kaum eine Gefühlsregung preis, aber als er jetzt zustimmend nickte, zeigte sich in seinem Blick beinahe so etwas wie Erleichterung über den erreichten Kompromiß.
Wendy führte Feenie in die Ecke am Fenster, die am weitesten von den anderen entfernt war. Feenie ging in die Hocke. In einem letzten verzweifelten Versuch, etwas Würde zu bewahren, gab sie Wendy zu verstehen, sie solle weggehen. Wendy kehrte um, blieb aber auf dem Rückweg bei ihrem Bewacher stehen und machte ihm klar, er solle nicht hinsehen, indem sie pantomimisch die Augen bedeckte. Beinahe schamerfüllt wandte sich der kleine Ajax ab.
Wendy tat noch einen Schritt, dann blieb sie wieder stehen, drehte sich um und sah ihn voller Entrüstung an.
»Ich möchte Ihnen nur sagen, daß dieses unsägliche Verhalten ein Nachspiel haben wird«, empörte sie sich. »Ich werde die erste sich mir bietende Gelegenheit ergreifen, an meinen Parlamentsabgeordneten zu schreiben und im Namen von Miss Macallum und in unser aller Namen eine offizielle Beschwerde einzureichen. Lassen Sie sich gesagt sein, daß jede weitere Unannehmlichkeit, die wir erdulden müssen, der ohnehin bereits umfangreichen Liste von Beschwerdepunkten hinzugefügt wird. Haben Sie mich verstanden, guter Mann?«
War die Frau jetzt komplett übergeschnappt? fragte sich Ellie. Ihr eigener Heroismus mochte sinnlos gewesen sein, aber dieser Auftritt war absolut surrealistisch!
Dann sah sie, was ihr zuerst nicht aufgefallen war, weil Wendy sie ganz in den Bann gezogen hatte.
Feenie hatte sich aufgerichtet und in Bewegung gesetzt. Doch sie war nun nicht mehr die bemitleidenswerte, gebrechliche Alte, vielmehr hatten ihr Gang und ihre Miene etwas Raubtierhaftes.
Auch der kleine Ajax stand ganz im Bann der zeternden Wendy, aber etwas an der Atmosphäre oder in den Blicken der anderen machte ihn offenbar stutzig.
Langsam drehte er sich um.
Da griff Wendy Woolley an. Sie sprang vor, stieß ihm ihr Knie in den Schritt (meine Taktik! dachte Ellie), packte die Hand mit dem Revolver am Gelenk und verdrehte es.
Automatisch drückte der kleine Ajax ab. Ein Kugelhagel prasselte gegen das Fenster. Das Glas splitterte rund um die Einschlaglöcher, brach aber nicht. Jemand schrie. Ellie wäre keine Wette eingegangen, daß nicht sie selbst geschrien hatte. Dann wurde ihr klar, daß es wohl Wendy gewesen war. Aus ihrem Oberschenkel strömte Blut. Anscheinend war sie von einem Querschläger getroffen worden. Sie ließ den Cojo nicht los, aber der kleine Ajax nutzte seine Chance und schleuderte sie beiseite. Sie landete neben dem Fenster auf dem Boden. Obgleich er sich vor Schmerz krümmte, richtete er seine Waffe auf ihren Kopf. Ellie stand immer noch wie unter Schock, weil alles so schnell gegangen war, ein Zustand, über den sie früher gespottet hatte, er sei eine
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