Das Haus an der Montego Bay: Roman (German Edition)
werde ich ihn aufsuchen und es ihm sagen.«
»Auf keinen Fall!«, stieß sie erschrocken hervor.
»Auch gut!«, knurrte Ethan. »Hauptsache, du triffst ihn nicht. So, und jetzt müssen wir die Beerdigung vorbereiten.«
Valerie zuckte zusammen. Für einen winzigen Moment hatte sie vergessen, was geschehen war. Ein Blick auf Hanne, die aussah, als würde sie friedlich schlafen, zeigte ihr, dass es kein Albtraum, sondern die unabänderliche Wahrheit war. Plötzlich verspürte sie das dringende Bedürfnis, mit ihrer Großmutter allein zu sein.
»Sei mir nicht böse«, seufzte sie. »Aber ich würde mich gern von meiner Grandma verabschieden.«
»Natürlich«, entgegnete Ethan, rührte sich aber nicht von der Stelle.
»Allein!«, sagte Valerie mit Nachdruck, während sie sich auf die Bettkante setzte. Sie konnte Ethans Gesicht zwar nicht sehen, aber an seiner Stimme war unschwer zu erkennen, dass ihn ihre Bitte kränkte.
»Nun, wenn ich störe, dann gehe ich lieber.«
Valerie drehte sich nicht einmal um. Schon wieder hatte er sich von einer anderen Seite gezeigt. Es missfiel ihr, mit welcher Vehemenz er ihr ein Treffen mit James verboten hatte.
Doch sie wandte sich nun mit ganzer Aufmerksamkeit ihrer Großmutter zu. Eine tiefe Traurigkeit überfiel sie. Wie ein schleichendes Gift breitete sich in ihr die Gewissheit aus, dass sie nie wieder Grandmas Stimme hören und dass sie niemand mehr aus dem Fenster im oberen Stockwerk beobachten würde.
Zweiter Teil
Hoffnung ist das gefiedert Ding,
das in der Seel’ sich regt,
und Lieder ohne Worte singt
aufs Neue unentwegt.
Aus dem Gedicht »Hoffnung ist das gefiedert Ding«
von Emily Elizabeth Dickinson
15
Montego Bay, Jamaika, September 1883
V aleries Leben hatte sich seit Hannes Tod komplett geändert. Plötzlich war sie nicht nur die Herrin von Sullivan-House, sondern auch die Frau an der Spitze eines Rumimperiums. Obwohl Gerald und Mister Kilridge alles taten, um sie in die Geschäfte einzuweihen, zweifelte sie daran, dass sie der Herausforderung gewachsen war. Grandma hätte sie früher in das Unternehmen einweisen müssen!
Von ihrem Mann Ethan erhielt sie wenig Unterstützung. Er war unermüdlich als Arzt gefordert. In den Sümpfen von St. Elizabeth Parish im Südwesten der Insel war das Dengue-Fieber ausgebrochen und hatte sich über die Stadt Black River bis nach Montego Bay ausgebreitet. Hunderte Menschen litten an dieser Krankheit, und viele waren bereits daran gestorben. Valerie bekam ihren Mann oft tagelang nicht zu Gesicht, und wenn er dann nach Hause kam, fiel er erschöpft ins Bett. Sie machte sich große Sorgen um ihn.
Kurz nach Hannes Beerdigung hatten sie ohne eine große Feier geheiratet. Valerie war nicht nach einem Fest zumute gewesen. Ihr fehlte Hanne sehr. Außerdem hatte sie außer zu Cecily den Kontakt zu ihren Freundinnen so gut wie verloren. Sie wurde nicht mehr eingeladen und gab auch selbst keine Gesellschaften. Manchmal kam sie sich vor wie ihre Großmutter und befürchtete, man würde auch sie über kurz oder lang als »schwarze Lady« bezeichnen.
Doch ihr blieb wenig Zeit, sich über ihren Ruf Gedanken zu machen. Andere Dinge waren wichtiger, wie die Frage, wo sie so schnell Aushilfsarbeiter für die Plantage hernehmen sollte, war doch ein Teil ihrer Beschäftigten am Fieber erkrankt. Überdies wollten sie sich nicht von Ethan behandeln lassen, sondern von einem schwarzen Heiler. Einem Scharlatan, wie Ethan behauptete. Valerie hatte den Mann ein einziges Mal gesehen, und sie fürchtete sich vor ihm. Sie konnte sich kaum vorstellen, dass er die Leute mit seinen Kräutern und Ritualen gesund machen konnte. Außerdem hieß es, er betreibe schwarze Magie. Und einige der Arbeiter waren dem Fieber bereits erlegen. Ethan hatte versprochen, den Kerl zu verjagen und den Leuten seine Hilfe anzubieten.
Eigentlich war sie an diesem Tag mit Gerald auf der Plantage verabredet, um die Arbeiter davon zu überzeugen, sich in Ethans heilende Hände zu begeben. Im Übrigen wollte er sie endlich in das Geheimnis der Destille einweihen, doch das Wetter spielte nicht mit. An diesem Tag wollte es überhaupt nicht hell werden. Dichte schwarze Wolken hingen über der Bucht, und es hatte bereits wiederholt geregnet. Dazu wehte ein kräftiger Wind, weswegen Jerome sich weigerte, den Wagen anzuspannen. »Das gibt ganz große Sturm, wie Misses Brown noch nie gesehen«, hatte er mit unheilschwangerer Stimme verkündet. Valerie teilte seine Sorge zwar nicht,
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