Das Haus an der Montego Bay: Roman (German Edition)
schon vor fast dreißig Jahren in dieser Stadt gelebt, als eine Horde ehemaliger Sklaven sie fast dem Erdboden gleichgemacht hat«, schimpfte sie.
Ich hörte ihr nur mit halbem Ohr zu, denn die Geschichte vom Aufstand der hiesigen Sklaven im Jahr 1818 hatte mir Jonathan oft genug vorgehalten.
»Ja, Misses Leyland, Benjamin ist auch mein Kind gewesen. Er hat sich von Nafias Hand losgerissen, nachdem er seinen Vater hat herbeireiten sehen. Und deshalb muss ich gehen, denn Benjamin hat es nicht verdient, dass seine Mutter einen Mörder deckt.«
»Ich habe gleich gesagt, dass Sie keinen Schimmer haben, wie es bei uns zugeht. Sie sind hier nie heimisch geworden. Ihr dummes Gerede von der Abschaffung der Sklaverei! Diese Ansicht teilt doch kein Mensch!«
»Die dänische Regierung, die auch über diese Inseln bestimmt, hat den Handel mit Sklaven schon vor dreißig Jahren verboten! Und jetzt lassen Sie mich durch!«
»Pah! Aber halten darf hier jeder Sklaven. Und das weiß auch Ihre Regierung sehr wohl. Wo würden wir hinkommen, wenn wir darauf verzichten würden?«
»Misses Leyland, ich sage es zum letzten Mal! Lassen Sie mich durch. Ich werde nicht einen Tag unter dem Dach eines widerwärtigen Mörders leben.«
Statt zur Seite zu treten, packte die Haushälterin mich grob am Arm und versuchte, mich in das Zimmer zurückzuschubsen.
»Sie bleiben da drin, bis der Herr zurück ist! Mord, dass ich nicht lache. Es hat ein Urteil gegeben.«
»Ja, sein Urteil!«, brüllte ich und nutzte ihre momentane Verwirrung über meine laute Stimme aus, um blitzschnell den Koffer abzustellen, sie abzuschütteln, sie meinerseits zu packen und in das Zimmer zu stoßen. Sie war so überrascht, dass ich es schaffte, den Schlüssel abzuziehen, die Tür hinter ihr zuzuschlagen und sie in meinem Schlafzimmer einzuschließen. Dann begab ich mich geradewegs zu Jonathans Arbeitszimmer. Ich wusste, wo er das Geld aufbewahrte, und griff ohne einen Anflug von schlechtem Gewissen tief in die Kasse. Ohne finanzielle Mittel – das hatte ich inzwischen gelernt – konnte man wenig ausrichten in dieser Welt. Ich war schweißgebadet, als ich endlich mit meinem Koffer in die Empfangshalle trat. Mir war übel, war ich doch eindeutig über meine Kräfte gegangen. Schließlich hatte ich vorhin noch bewusstlos im Bett gelegen.
Ich war froh, als Jeremiah mir in diesem Augenblick entgegeneilte. Er trug auch einen Koffer und sah aus wie ein vollendeter Gentleman in seinem dunklen Anzug und dem blütenweißen Hemd.
»Wohin gehen wir eigentlich?«, fragte ich zaghaft.
»Auf ein Schiff, das uns nach Jamaika bringt!«, erwiderte er und holte einen Brief aus der Tasche. »Mein Freund, Kapitän Will Brown, hat mir geschrieben, dass er wieder mit der Sea Cloud nach Christiansted kommt. Und wie jedes Mal hat er mich beschworen, nach Hause zurückzukehren, weil Gras über die Sache gewachsen ist.«
»Was für eine Sache?«, wollte ich wissen, doch ich merkte bereits an seiner Miene, dass ihm nicht der Sinn danach stand, mir seine Lebensgeschichte zu erzählen. Und er hatte ja recht. Wir sollten jede Minute nutzen, um Jonathan zu entkommen. Vor der Tür standen zwei Pferde. Jeremiah hatte an alles gedacht. Die Straße war wie leergefegt, aber ein Blick zum Himmel bereitete mir große Sorge. Die Sonne hatte sich hinter gefährlich dunklen Wolken versteckt. Ich hatte im Herbst schon so manches Gewitter und manchen Sturm erlebt, aber mir war, als würden etwas Gelbliches am Himmel schimmern. Das hatte ich noch nie zuvor gesehen.
»Was ist das?«, fragte ich Jeremiah, als wir losritten.
»Es könnten die Vorzeichen eines Hurrikans sein«, erwiderte er und mahnte mich zur Eile. Ohne dass wir einer Menschenseele begegneten, schafften wir es, die Stadt zu verlassen. Der Weg hinauf in die Berge schien mir beschwerlich, aber unseren Pferden machte der steile Aufstieg nichts aus. Wir waren gerade oben am Gipfel angekommen, als wir hinter uns einen ohrenbetäubenden Lärm vernahmen. Erschrocken wandten wir uns um. Über Frederiksted fegte eine gelbe Wolke hinweg.
»Runter vom Pferd!«, schrie Jeremiah gegen das schreckliche Geräusch an, das sich wie das Knirschen von Zähnen anhörte. Jeder andere Vergleich hätte nicht annähernd beschreiben können, wie scheußlich es vom Tal zu uns hinaufschallte. Auch hier oben wehte es jetzt bedrohlich. Ich sprang vom Pferd und folgte Jeremiah in den Schutz einer Kiefer. Er machte mir ein Zeichen, das Pferd anzubinden und mich
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