Das Haus an der Montego Bay: Roman (German Edition)
ungutes Gefühl, als ich schon von Weitem sah, dass die Tür offenstand. Noch mulmiger wurde mir, als ich feststellte, dass es leer war. Nafias persönliche Gegenstände waren alle fort. Ich betete, dass Jonathan sie zurück in ihre Hütte geschickt oder schlimmstenfalls an einen anderen Plantagenbesitzer verkauft hatte …
So schnell ich konnte, verließ ich das Haus und rannte durch den Garten in Richtung der Plantage. Kein Mensch war auf den Feldern. Alles schien wie ausgestorben. Da hörte ich wieder diese wehklagenden Frauenstimmen. Sie kamen von dem Platz hinter den Hütten. Dort, wo vor meiner Zeit als Herrin von Sullivan die Sklaven bestraft worden waren. Außer Atem erreichte ich den Platz, auf dem ein einsamer Tamarindenbaum stand. Als ich erkannte, was aus dem immergrünen Laub ragte, drohte mein Herzschlag auszusetzen. Es war ein Paar nackter Beine, die in der Luft baumelten. Unter dem Baum hockten die Schwarzen auf der Erde und weinten. Wie betäubt näherte ich mich dem Geschehen. Plötzlich legten sich zwei Hände auf meine Schultern. »Tu dir das nicht an!«, flüsterte Jeremiah mit tränenerstickter Stimme.
»Ich muss es sehen. Sonst kann ich es nicht glauben«, erwiderte ich heiser.
»Gut, dann komm!« Jeremiah nahm mich bei der Hand und führte mich zu der Stelle des Baumes, an der kein Laubkleid das Unfassbare vor mir verbergen konnte.
Ich war vor Entsetzen wie gelähmt. Weder ein Schrei entrang sich meiner Kehle, noch eine Träne rollte über meine Wangen. Ich wünschte mir nur eines: dass mich eine gnädige Ohnmacht ereilte, aus der ich nie wieder erwachen würde.
»Wer hat das getan?«, stieß ich nach einer Weile hervor.
»Dein Mann. Er hat sich betrunken, uns dann alle gezwungen, an eurem toten Kind vorbeizugehen, bevor er Nafia zum Tode verurteilt hat. Als Mörderin seines Sohnes. Dabei wussten wir alle, dass es sein Pferd gewesen ist, das Benjamin …« Er brach ab und schluchzte laut auf. »Dann hat er sie gepackt, ist mit ihr zu dem Tamarindenbaum geritten, hat eigenhändig das Seil geknüpft und sie daran aufgehängt.«
Die grausame Wahrheit drang immer noch nicht ganz zu mir durch, obwohl ich den Blick nicht von ihrem toten Körper ließ.
»Bitte, schneide sie ab«, raunte ich.
»Er hat gesagt, wer das tut, der wird der Nächste sein, der dort baumelt«, erwiderte Jeremiah, bevor er in die Menge schrie: »Bringt mir eine Leiter und ein Messer!« Ein paar Männer rannten los und kehrten mit den verlangten Dingen zurück. Jeremiah stieg hinauf und schnitt Nafia ab. »Fangt sie auf«, befahl er. Sofort bildete sich eine Traube von Sklaven unter ihrem geschundenen Körper, und Nafia landete sanft in den Armen ihrer Leute.
Ich betrachtete das Ganze immer noch wie betäubt. Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen und war innerlich leer. Als hätte ich keinerlei Gefühle mehr.
Jeremiah kam zurück zu mir und legte mir den Arm um die Schulter. »Ich muss Sullivan verlassen. Sonst bringt er mich um«, sagte er leise.
Diese Worte rissen mich aus meinem Schockzustand.
»Ich gehe mit dir, denn sonst bringe ich ihn um«, erwiderte ich ungerührt, während ich auf die Menschen zutrat, die unter dem Baum standen und Nafia in ihren Armen wiegten. Als ich meine Hand nach ihr ausstreckte, hielten sie inne. Ich strich ihr über das Haar und flüsterte immer wieder: »Es tut mir so leid, dass ich nicht da war, um dich zu beschützen!« Nach einer ganzen Weile spürte ich wieder Jeremiahs tröstende Hände auf meinen Schultern, und ich konnte mich von Nafia lösen.
»Wir müssen uns beeilen. Er ist vorhin wie ein Wahnsinniger davongeritten. Er wollte sich eines der Mädchen greifen, aber sie haben sich vor sie gestellt und es nicht zugelassen, dass er sie mitnimmt, um ihr wehzutun. Kannst du in fünfzehn Minuten unten am Eingang sein?«
Ich nickte und verließ diesen Ort des unaussprechlichen Grauens, um das Nötigste zusammenzupacken. Und dazu gehörten die Zeichnungen meines Ehemannes Pit, die ich vorsichtig in einem Seitenfach verstaute. Als ich mit einem gepackten Koffer in der Hand aus meinem Schlafzimmer trat, stellte sich mir Misses Leyland in den Weg. »Sie dürfen jetzt nicht gehen. Er braucht sie doch«, zeterte sie.
»Bei einem Mörder bleibe ich nicht«, erwiderte ich kalt.
»Was reden Sie denn da? Es ist auch Ihr Kind gewesen. Wie können Sie nur so kaltschnäuzig sein? Und weiter zu dieser Schwarzen halten? Sie ahnen ja gar nicht, wie gefährlich die sein können. Ich habe
Weitere Kostenlose Bücher