Das Haus an der Montego Bay: Roman (German Edition)
wusste, dass ich ihr das nicht antun konnte. Ich fasste einen folgenschweren Entschluss. Ich wollte nicht schuld an Mutters Tod sein. Deshalb würde ich aber auch noch lange nicht Pit Hensen heiraten! So blieb mir nur, meinen Eltern etwas vorzuspielen. Etwas, das sie mir auch abnehmen würden.
Ich klopfte Mutter sanft auf den Rücken, bis der Anfall vorüber war. Ihr Gesicht glühte, als hätte sie hohes Fieber. Und ich befürchtete, dass das keine Einbildung war.
»Mutter, du gehörst ins Bett!«, befahl ich und reichte ihr meinen Arm, um sie in ihr Schlafzimmer zu begleiten.
»Aber nun sag schon, wirst du uns die Liebe tun und Pit Hensen heiraten?«, keuchte Mutter, kaum dass der letzte Husten verklungen war.
»Liebe Mutter, lieber Vater, verzeiht, aber ich kann mich im Augenblick nicht mit der Frage beschäftigen, ob ich Pit Hensen heiraten werde. Solange du krank bist, werde ich mich um dich kümmern und keine Ehe eingehen. Mit niemandem!«
Mutter sah mich aus großen Augen an. »Dann versprich mir, dass du Pit Hensen heiratest, sobald ich von euch gegangen bin.«
Mir war, als würde in meinem Bauch ein riesiger Stein wachsen. Ich wollte, dass Mutter ihren Frieden fand, doch nicht um den Preis meines Glücks.
»Gut«, raunte ich schwach.
»Schwöre es!«
»Ich schwöre es«, erwiderte ich kaum hörbar, während ich hinter meinem Rücken mit den Fingern ein Zeichen machte, das diesen Schwur auflöste. Dabei kamen mir die Tränen. Der Gedanke, dass Mutter bald von uns gehen würde, wollte mir das Herz brechen. Und doch musste ich alles vorbereiten, um meinem Schicksal an der Seite dieses Mannes zu entgehen.
»Dann bitte ich ihn, uns in den nächsten Tagen noch einmal seine Aufwartung zu machen, damit wir die Verlobung verkünden können«, sagte Vater, und zum ersten Mal seit Langem sah ich, wie ein Lächeln seinen Mund umspielte.
Freu dich nur nicht zu früh, ging es mir durch den Kopf, denn dass er bereit war, seinem Geschäft mein Glück zu opfern, würde ich ihm nie verzeihen!
»Nein, ich möchte Pit Hensen nicht sehen, solange ich mich um Mutters Wohl kümmere. Sie steht fortan im Mittelpunkt meines Trachtens«, erklärte ich entschlossen.
»Aber was ist, wenn der Arzt sich getäuscht hat und ich noch Jahre lebe?«
Nun war es meine Miene, über die ein Lächeln huschte. »Dann soll es so sein«, entgegnete ich in der stillen Hoffnung, dass Mutter, wenn sie schon kein langes Leben mehr vor sich hatte, zumindest noch ein paar Monate unter uns weilen würde, damit ich in Ruhe alles vorbereiten konnte für den Tag, an dem sie für immer gehen würde … Denn das würde auch der Tag sein, an dem ich mein Elternhaus für immer verlassen musste!
3
Montego Bay, Jamaika, März 1883
V alerie hatte Grandmas Tagebuch nicht mehr angerührt, seit sie die ersten Seiten förmlich verschlungen hatte. Nun lag es zugeschlagen auf ihrem Sekretär, und sie wagte nicht fortzufahren. Ihr ging das Schicksal der jungen Hanne Asmussen sehr nahe. Beim Lesen hatte sie zum Teil sogar vergessen, dass die junge Frau mit dem unbeugsamen Willen ihre Großmutter war. Sie erkannte sich in einer Art und Weise in ihr wieder, dass es geradezu schmerzte. Doch eines konnte sie sich beim besten Willen nicht vorstellen: dass Grandma je einen Mann geliebt hatte.
Valerie strich zärtlich über den ledernen Einband, als Asha an die Tür pochte und ihr einen Besucher ankündigte.
»Wer ist es?«, fragte Valerie neugierig.
»Ein Herr!«, rief Asha ungerührt.
Wie der Blitz war Valerie bei der Tür und riss sie auf. »Welcher Herr?«
»Ich glaube, der Mann, dem du das Pferd abgeluchst hast. Jedenfalls sieht er genauso gut aus, wie du ihn mir geschildert hast«, erwiderte Asha mit sichtlichem Vergnügen an Valeries verblüfftem Gesicht.
»Ich will ihn nicht sehen!«, erklärte Valerie nach einem Augenblick des Schweigens.
»Aber er sitzt schon im Salon und wartet auf dich!«
»Dann gehe runter und teile ihm mit, dass ich ausgeritten bin!«
Asha verzog den Mund zu einem Grinsen. »Das wird er mir schwerlich abnehmen. Er war nämlich erst im Stall bei Black Beauty und hat den Gaul begrüßt. Und nun unterhält er sich mit deiner Großmutter. Du willst wirklich …?«
»Wie bitte? Großmutter spricht mit ihm?«, unterbrach Valerie sie ungeduldig.
»Ja, sie scheinen sich ganz angeregt zu unterhalten. Ich habe ihnen bereits Tee serviert«, sagte sie, bevor sie rasch hinzufügte: »Tee mit Rum!«
»Sag dem Herrn bitte, ich käme
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