Das Haus an der Montego Bay: Roman (German Edition)
dich beruhigt, ich habe ihm vorhin verboten, sich mir jemals wieder zu nähern!«
»Und warum, wenn ich fragen darf? Das macht eine junge Lady ja nicht aus Jux und Tollerei«, fragte Hanne misstrauisch.
»Er hat versucht, mich zu küssen!«, stieß Valerie unwirsch hervor.
Hanne stöhnte laut auf. Die Angelegenheit war gefährlicher, als sie befürchtet hatte. Dass Valerie sich nicht von ihm hatte küssen lassen, lag sicher nur daran, dass er offiziell mit Mary Tenson verlobt war. Und das wurmte Valerie. Doch was, wenn der junge Mann es wirklich ernst mit ihrer Enkelin meinte und die Verlobung mit der jungen Tenson löste?
»Bitte versprich es mir. Lass dich nicht auf ihn ein, bevor du das Tagebuch durchgelesen hast!« Ihr Ton war eindringlich.
Valerie funkelte ihre Großmutter zornig an. »Ja, ja, und noch einmal ja! Hast du nicht gehört, dass ich ihn fortgeschickt habe? Das sagt doch alles, oder?«
»Stimmt, das sagt alles!«, erwiderte Hanne zweideutig.
»Dann werde ich mich mal an die Arbeit machen«, seufzte Valerie. »Mit der Lektüre werde ich wohl ein paar Wochen zu tun haben. Deine Schrift ist zwar gestochen scharf, nur vergiss nicht, dass du viel und zudem auf Deutsch geschrieben hast und ich mir alles im Kopf übersetzen muss.«
»Vally, weich mir nicht aus. Schwöre mir, dass du keine Liebesbeziehung mit James Fuller eingehst, bis …«
»Ja, ja, ich schwöre es«, entgegnete Valerie genervt. »Wenn du mir im Gegenzug verrätst, warum der alte Doc so leuchtende Augen bekommt, wenn er von dir spricht.«
»Ich habe nicht die leiseste Ahnung«, fauchte Hanne.
»Schon gut, Grandma, ich schwöre!«
Hanne griff nach der gesunden Hand ihrer Enkelin und zog die junge Frau, die ihr auf fast unheimliche Weise ähnlich war, ohne weitere Umschweife zu deren Zimmer.
»Du ruhst dich jetzt aus«, befahl sie streng, bevor sie geschäftig davoneilte. »Ich lasse dir kalte Umschläge machen.«
Valerie legte sich in ihrem Reitdress auf den Bettüberwurf und blickte versonnen zur Decke. Es wurde Zeit, dass ihr Verstand wieder die Oberhand gewann. Seit James Fuller in ihr Leben getreten war, kam sie sich vor wie eine vom Tropensturm abgerissene Hibiskusblüte, die hilflos durch die Lüfte gewirbelt wurde.
4
Flensburg, Juli 1830
L eider hat der Herrgott meine Gebete nicht erhört. Und Mutter wird von Tag zu Tag schwächer. Sie kann kaum noch einen Satz sprechen, der nicht von einem fürchterlichen Hustenanfall unterbrochen wird. Ich sitze Tag und Nacht an ihrem Bett, weil Vater es nicht erträgt, ohne in Tränen auszubrechen. Er ist ein Bild des Jammers. Diesen Mann, der stets wie ein Fels in der Brandung gestanden hat, derart hilflos zu erleben, geht mir mächtig ans Herz. Natürlich wünschte ich in den Augenblicken, in denen mir die Augen zuzufallen drohen, er wäre mir eine Hilfe, aber das ist Vater beileibe nicht.
Deshalb hatte ich auch ein schlechtes Gewissen, als ich mich an diesem Tag heimlich fortschlich. Doch, es musste sein. Wie sonst sollte ich herausfinden, ob Hauke mich so liebte wie ich ihn und ob er Manns genug war, mich notfalls aus meiner prekären Lage zu retten?
Ich schlich mich also auf Zehenspitzen die breite Treppe in die Diele hinunter und wollte gerade aus der Tür schlüpfen, als ich aus Vaters Arbeitszimmer seine sichtlich erregte Stimme vernahm. Mit wem mochte mein ansonsten so am Boden zerstörter Vater in dieser Lautstärke streiten? So schlich ich zu der Tür seines Reiches, das ich nur mit seiner ausdrücklichen Erlaubnis betreten durfte. Die Tür stand einen Spaltbreit offen. Vorsichtig näherte ich mich und versuchte einen Blick auf Vaters Besucher zu erhaschen. Mir war, als wollte mir das Herz stehen bleiben, als ich in der zusammengesunkenen Gestalt auf dem Besucherstuhl Hauke erkannte. Sein sonnengebleichter Lockenschopf war auch von hinten zweifelsfrei zu erkennen. Vater stand hinter seinem Schreibtisch, was ihn noch mächtiger aussehen ließ. Sein Gesicht war wutverzerrt. Ich ahnte, was hier verhandelt wurde, und lauschte atemlos.
Vater geizte nicht mit klaren Worten: »Junger Mann, es mag sein, dass Sie ehrenwerte Absichten haben und dass Sie meine Tochter lieben. Aber wollen Sie mein geliebtes Kind unglücklich machen? Sie hat die einmalige Chance, einen der wohlhabendsten Bürger der Stadt zu ehelichen. Soll sie darauf verzichten, um Sie Habenichts zum Mann zu nehmen! Wie wollen Sie meine Hanne ernähren?«
Gebannt heftete ich meinen Blick auf den Rücken des
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