Das Haus an der Montego Bay: Roman (German Edition)
Sylt, nach Flensburg verschlagen hat und die sehr schüchtern ist. Ich werde nachsehen und es dir, liebes Tagebuch, berichten.
In der Tat, es war Heike mit der Nachricht, ich solle schnellstens zum Rumkeller kommen. Mein Mann habe einen Schwächeanfall erlitten. Ich zittere am ganzen Körper. Ich will jetzt nicht sagen, dass ich es ja gewusst hätte …
9
Flensburg, November 1831
E s war und es ist noch immer das nackte Grausen. Ein anderes Wort fällt mir für das, was ich an diesem Abend erlebt habe und was mir noch bevorsteht, nicht ein. Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll, und befürchte, dass ich nicht die richtigen Worte finde, um zu beschreiben, wie mein Leben nun in Trümmern liegt.
Meine Hand ist immer noch nicht ruhig. Ich möchte gegen die aufkeimende Panik anschreiben, aber die Buchstaben tanzen auf dem Papier und lassen sich nicht bändigen. Ich bringe keinen geraden Satz zustande. Und immer wieder taucht das grauenvolle Bild vor meinen Augen auf. Am liebsten würde ich zu Vater gehen und mich von ihm trösten lassen, wie früher, wenn ich mir die Knie aufgeschlagen hatte … Doch Vater würde diese Aufregung mit Sicherheit nicht verkraften. Aber was soll ich tun, um mir die Zeit zu vertreiben, bis Heinrich endlich zurückkehrt? Und vor allem: Was wird er für neue Nachrichten mitbringen? Ob sich inzwischen alles aufgeklärt hat? Auf jeden Fall wird mir Heinrich helfen. Er wird nicht zulassen, dass das Ansehen unserer Familie derart besudelt wird!
Was für eine Ironie des Schicksals, dass mir der Mann zur Seite steht, dem ich einst einen Korb gegeben habe und der dann meine Schwester geheiratet hat! Ich fand immer, dass sie die Hübschere von uns beiden ist. Sie besitzt diese Anmut der elfengleichen Wesen und nichts von der ungestümen Burschikosität, die ich an mir habe. Ach, Lene, denke ich seufzend, ob wir uns jemals wiedersehen? Ich darf nicht schon wieder einen Tränenausbruch riskieren, denn dann kann ich mir das alles nicht mehr von der Seele schreiben. Natürlich könnte ich die nächsten Stunden auch auf die Hanne von Flensburg starren, wie sie dort unten mondbeschienen im Hafen liegt und auf ihre erste Reise wartet … Aber das würde ich nicht aushalten. Natürlich könnte ich auch in diesem Zimmer auf und ab gehen, doch damit bekäme ich das schreckliche Bild mit Sicherheit nicht aus dem Kopf. Ich könnte schreien, aber es darf keiner wissen, dass ich in meinem alten Zimmer versteckt auf meine Abreise warte.
Aber ich sollte alles von Anfang an niederschreiben, von dem Augenblick an, in dem man mich zum Kontorhaus gelockt hat, damit ich selbst begreife, dass es kein schlimmer Traum ist, aus dem ich sogleich erwachen werde. Nein, es ist die Wahrheit. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen!
Ich hatte den ganzen Weg von der Villa hinunter zur Schiffsbrücke ein flaues Gefühl im Bauch. Es war höchst merkwürdig, dass ein kleiner Junge die Nachricht überbracht hatte, der danach sofort fortgelaufen war. Das Kontorhaus war stockdunkel. Hinter keinem der Fenster brannte ein Licht. Weder im Speicher noch in der Obstbrennerei wurde noch gearbeitet. Eine innere Stimme warnte mich davor, das verlassene Haus zu betreten oder gar in den Keller zu steigen. Doch was sollte ich tun? Was, wenn Pit tatsächlich meine Hilfe benötigte? Ich konnte schlecht wie ein kleines verängstigtes Mädchen zurückrennen und meinen Vater holen, weil ich mich nicht in das Haus wagte. Nein, feige war ich mit Sicherheit nicht!
Entschlossen öffnete ich die schwere Eichentür und hielt verwundert inne. Im Korridor brannten die Gaslampen. Ich atmete ein paarmal tief durch. Energisch näherte ich mich dem Eingang zum Keller. Was in Gottes Namen hatte ich zu befürchten? Wahrscheinlich ist einer von Pits Mitarbeitern bei ihm und hat ein Kind geschickt, um ihn nicht allein zu lassen. Ich konnte nur hoffen, dass es sich um nichts Schlimmeres als einen kleinen Schwächeanfall handelte.
Kaum hatte ich die knarrende Tür zum Keller geöffnet, rief ich laut seinen Namen, aber erhielt keine Antwort. Das missfiel mir außerordentlich, denn, wäre jemand bei ihm, er würde mir doch ein Zeichen geben. Sofort wurden mir die Knie weich. Ich blieb auf der oberen Stufe stehen, hielt die Luft an und lauschte in die Stille hinein. Es war gespenstisch, denn kein Laut drang an mein Ohr. Ich war mir sicher, dass sich niemand im Keller befand. Zumindest ein Stöhnen und Ächzen würde ich hören müssen …
Und trotzdem zog es
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