Das Haus an der Montego Bay: Roman (German Edition)
gewollt, Miss Sullivan, es ist mir im Zorn über Ihren Hochmut herausgerutscht, was ich zutiefst bedauere. Was würde ich darum geben, wenn ich es rückgängig machen könnte.« Er sah Hanne bedauernd an. »Kannst du mir jemals verzeihen?«
Hanne rang sich zu einem Lächeln durch. »Aber ja, Paul. Du hast stets zu mir gestanden. Und es wäre ohnehin bald herausgekommen. Aber wenn du unbedingt willst, kann ich es dir auf der Stelle erzählen, Vally. Es ist eine lange Geschichte …«
»Behalte sie nur weiter für dich«, schnaubte Valerie. »Meinetwegen nimm sie mit ins Grab! Ich will gar nichts mehr davon hören. Lasst mich doch alle in Ruhe!«
Mit diesen Worten rannte Valerie aus dem Zimmer, verließ das Haus und eilte zum Stall. Dort sattelte sie eilig ihr Pferd und galoppierte los, als wäre der Teufel hinter ihr her. Als sie unten am Strand angekommen war, fegte sie so kräftig durch das Wasser, dass es zu beiden Seiten mächtig spritzte. Sie hatte nur einen Wunsch: zu vergessen, was sie soeben erfahren hatte! Keinen einzigen Blick würde sie mehr in dieses Tagebuch werfen, weil sie gar nicht mehr an der Wahrheit interessiert war. Schließlich kannte sie jetzt das Geheimnis, das ihr Leben betraf. Misses Fuller hatte also nicht gelogen. Nein, durch ihre Adern floss tatsächlich schwarzes Blut!
Aber deshalb werde ich mich noch lange nicht demütigen lassen, beschloss sie kämpferisch. Und sollte ich James Fuller jemals wiedersehen, werde ich ihm die Wahrheit ins Gesicht schleudern, damit er endlich Mary Tenson heiraten kann!
11
Montego Bay, Jamaika, Juni 1883
S eit dem Streit machte Valerie einen Riesenbogen um ihre Großmutter. Die gemeinsamen Malzeiten schwänzte sie, und ihr Essen ließ sie sich auf das Zimmer bringen. Überhaupt verbrachte sie die meiste Zeit hinter verschlossenen Türen, lag auf ihrem Bett und starrte an die Decke. Ein paarmal hatte ihre Großmutter sie um ein Gespräch gebeten, aber Valerie hatte sie einfach im Flur stehen lassen.
Manchmal wusste sie gar nicht mehr, was sie an der ganzen Sache am meisten aufregte. War es die Tatsache, dass sie ein Mischling war? War es die Wut darüber, dass Miss Fuller recht gehabt hatte? War es die Vorstellung, dass James Fuller jetzt Mary heiraten würde? Oder war es vielmehr der Zorn auf ihre Großmutter, weil sie es ihr ein Leben lang verheimlicht hatte?
In ihrem Kopf drehte sich alles, und sie wusste nur eines: Sie war unendlich wütend! Manchmal fragte sie sich zwischendurch, ob sich diese Wut womöglich gegen sie selbst richtete. Denn jedes Mal, wenn sie sich vor Augen führte, wie kindisch sie sich Doktor Brown und Ethan gegenüber benommen hatte, wurde ihr mulmig zumute. Sie hatte sich derart taktlos verhalten! Schließlich teilte Ethan ihr Schicksal, ein Mischling zu sein. Und wie selbstbewusst er damit umging! Valerie ballte die Fäuste und richtete sich auf. Nein, sie konnte und wollte sich nicht länger vor der Welt verstecken. Sogar Cecily hatte sie von Asha abwimmeln lassen, als die Freundin mit ihr die obligatorische Fahrt zur Plantage hatte unternehmen wollen. Valerie hatte niemanden sehen wollen.
Sie stand auf, strich ihr Kleid glatt und eilte zum Fenster. Selbst das hatte sie tagelang geschlossen gehalten, doch nun ließ sie die wunderbar weiche Luft ins Zimmer strömen. Valerie nahm einen tiefen Zug. Herrlich, durchfuhr es sie, als sie den Duft von Jasmin einsog. Sie ließ den Blick bis zur Palmenallee schweifen, als sie in der Ferne einen Reiter wahrnahm. James, war ihr erster Gedanke, und ihr Herzschlag beschleunigte sich. Sie konnte zwar noch nichts Näheres erkennen, aber die gerade, stolze Haltung des Reiters war auffällig. Hastig trat sie ins Zimmer zurück und holte sich in Windeseile ein schönes Kleid aus dem Schrank, in das sie schnell schlüpfte. Dann griff sie sich den passenden Hut und warf noch einen flüchtigen Blick in den Spiegel. Sie erschrak, als sie ihr grimmiges Spiegelbild sah. So konnte sie James nicht gegenübertreten. Also rang sie sich zu einem Lächeln durch.
Sie lief aus dem Zimmer und nahm immer zwei Stufen auf einmal, um auf jeden Fall aus dem Haus zu sein, bevor er an die Tür pochte. Es musste so aussehen, als ob sie gerade im Begriff stand auszugehen, denn war er erst einmal im Haus, würde man ihn unweigerlich in den Salon zu Großmutter schicken. Und James in Grandmas Gegenwart wiederzusehen – danach stand ihr ganz und gar nicht der Sinn.
Sie war erleichtert, als sie es schaffte, aus der
Weitere Kostenlose Bücher