Das Haus auf den Klippen
kennenlernte, die zeit
ihres Lebens in Hyannis gelebt hatte. Deb war nicht daran interessiert, in New York zu wohnen, weshalb er sich nach seinem
Diplom bereitwillig um eine Stelle bei der Polizei auf dem Cape
bewarb. Jetzt, mit vierzig, stand er im Rang eines Detective, war
Vater zweier halbwüchsiger Söhne und ein Exemplar jener seltenen Spezies Mensch: ein gelassener, heiterer Mann, der mit
seiner Familie und seiner Arbeit zufrieden war und dessen einzige Hauptsorge seinen dreizehn, vierzehn unerwünschten Pfund
Gewicht galt, welche die hervorragende Kochkunst seiner Frau
seiner ohnehin kräftigen Statur hinzugefügt hatte.
Heute morgen jedoch war ein weiteres Problem hinzugekommen. Eigentlich hatte es ihm schon seit geraumer Zeit zugesetzt.
Nat wußte, daß sein Boß, Polizeichef Frank Shea, fest davon überzeugt war, Vivian Carpenter Coveys Tod sei die Folge eines Unfalls. »An dem Tag hatten wir zwei weitere Fälle von BeinaheErtrunkenen«, erklärte Frank. »Es war Vivian Carpenters Boot. Sie
kannte sich in diesen Gewässern besser als ihr Mann aus. Wenn
einer hätte dran denken sollen, das Radio anzudrehen, dann war sie
es.« Trotzdem ließ die Sache Nat nicht los, und wie ein auf seinen
Knochen versessener Hund war er nicht willens, davon abzulassen,
bis sein Verdacht entweder bestätigt oder aber ausgeräumt war.
Heute morgen war Nat früh in der Polizeiwache erschienen
und hatte die Obduktionsbilder unter die Lupe genommen, die
der Gerichtsmediziner aus Boston geschickt hatte. Obwohl er
sich schon vor langer Zeit beigebracht hatte, den Fotos von Opfern gegenüber klinisch objektiv zu sein, traf ihn der Anblick
des schlanken, vom Wasser aufgedunsenen und von Fischbissen
verstümmelten Körpers – oder dessen, was davon übrig war –
so, als träfe der Bohrer eines Zahnarztes einen bloßgelegten
Nerv. Mordopfer oder Unfallopfer – was traf zu?
Um neun Uhr ging er in Franks Büro und bat darum, den Fall
übernehmen zu dürfen. »Ich will wirklich dran bleiben. Es ist
wichtig.«
»Eine Ihrer Eingebungen?« fragte Shea.
»Exakt.«
»Ich glaube, Sie täuschen sich, aber es schadet nichts, gründlich zu sein. Machen Sie mal.«
Um zehn war Nat bei dem Trauergottesdienst. Keine Lobrede
auf das arme Kind. Was verbarg sich hinter den steinernen Gesichtern von Vivian Carpenters Eltern und Schwestern? Trauer,
die man, wie es sich für vornehme Leute gehörte, vor neugierigen Augen zu verheimlichen hatte? Zorn über eine sinnlose Tragödie? Schuldgefühle? Die Medien hatten reichlich über Vivian
Carpenters unglückliche Entwicklung berichtet. Ihr Leben unterschied sich in allem von dem ihrer älteren Schwestern, von denen die eine Chirurgin, die andere Diplomatin war und beide
angemessen verheiratet waren, während Vivian nach einem
Rausschmiß aus dem Internat, weil sie Gras geraucht hatte, später auch das College abbrach. Obwohl sie das Geld nicht brauchte, übernahm sie einen Job, als sie zum Cape zog, und gab ihn
dann wieder auf – ein Verhaltensmuster, das sich noch mehrfach
wiederholen sollte.
Scott Covey saß allein in der ersten Reihe und weinte während des gesamten Gottesdienstes. Er sieht so aus, wie ich mich
fühlen würde, wenn Deb etwas zugestoßen wäre, dachte Nat
Coogan. Fast schon überzeugt, daß er sich in etwas verrannt
hatte, verließ er mit dem Ende der Trauerfeier die Kirche und
hielt sich dann draußen auf, um die Bemerkungen der verschiedenen Leute aufzuschnappen.
Es war interessant, was sie von sich gaben. »Arme Vivian. Sie
tut mir so leid, aber sie war ganz schön anstrengend, findest du
nicht?«
Die Gesprächspartnerin mittleren Alters seufzte. »Ich weiß.
Sie konnte sich nie einfach mal gehenlassen.«
Nat fiel wieder ein, daß Covey geäußert hatte, er habe seiner
Frau ohne Erfolg dringend angeraten, doch weiterzudösen, während er tauchen ging.
Ein Fernsehreporter rief verschiedene Leute vor die Kamera.
Nat sah, wie eine attraktive Blondine von selbst auf den Reporter zuging. Er erkannte sie: Elaine Atkins, die Immobilienmaklerin. Er schlenderte beiläufig hinüber, um ihren Kommentar mitzubekommen.
Als sie fertig war, machte Nat sich eine Notiz. Elaine Atkins
sagte, die Coveys hätten sich nach einem größeren Haus umgesehen und vorgehabt, eine Familie zu gründen. Sie schien das
Ehepaar ziemlich gut zu kennen. Er nahm sich vor, selbst mit
Miss Atkins zu sprechen.
Als er ins Büro zurückkehrte, holte er wiederum die Obduktionsbilder
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