Das Haus auf den Klippen
eigenen war klein, aber es schien gerade richtig für das
Baby. Menley zog sich den Morgenrock enger um und schritt in
den Gang hinaus.
Als sie die Tür zu Hannahs Zimmer öffnete, kam ihr ein frostiger Luftzug entgegen. Ich hätte sie mit einer Steppdecke zudecken sollen, dachte Menley, ganz bestürzt darüber, wie sie das
hatte vergessen können. Um elf Uhr, bevor sie zu Bett gingen,
hatten sie noch nach der Kleinen geschaut und über die Decke
debattiert, dann aber entschieden, daß sie nicht nötig war. Offensichtlich war es in der Nacht viel stärker abgekühlt als erwartet.
Menley rannte zum Bettchen. Hannah schlief fest; die Steppdecke war sicher um sie herum festgesteckt. Ich kann doch unmöglich vergessen haben, daß ich nachts hierhergekommen bin,
dachte Menley. Wer hat sie nur zugedeckt?
Dann kam sie sich töricht vor. Adam mußte aufgestanden sein
und nach dem Baby geschaut haben, obwohl das etwas war, was
kaum je geschah, da er gewöhnlich sehr tief schlief. Oder ich bin
doch selbst reingekommen, überlegte sie. Die Ärzte hatten ihr
ein Schlafmittel verschrieben, das sie schrecklich benommen
machte.
Sie wollte Hannah küssen, wußte jedoch, daß sie damit das
Risiko einging, die Kleine sofort zu wecken. »Bis später, Babe«,
flüsterte sie. »Ich brauche erst eine Tasse Kaffee in Frieden.«
Am unteren Treppenabsatz zögerte sie, da ihr plötzlich bewußt wurde, wie schnell ihr Herz schlug und wie überwältigend
traurig sie mit einemmal war. Der Gedanke überfiel sie urplötzlich: Ich werde Hannah auch noch verlieren. Nein! Nein! Das
ist lächerlich, sagte sie sich heftig. Warum überhaupt an so etwas denken?
Sie ging in die Küche und stellte den Kaffeekocher an. Zehn
Minuten später stand sie mit der dampfenden Tasse in der Hand
im vorderen Wohnzimmer und schaute auf den Atlantik hinaus,
während die Sonne den Himmel hinanstieg.
Das Haus war zum Monomoy Strip hin gelegen, dem schmalen Sandstreifen zwischen Ozean und Bucht, der, wie Menley
gehört hatte, Schauplatz zahlloser Fälle von Schiffbruch war.
Vor wenigen Jahren war das Meer durch die Sandbank hereingebrochen; Adam hatte ihr gezeigt, wo ganze Häuser in die See
gestürzt waren. Remember House aber, versicherte er ihr, war
weit genug zurückgesetzt, daß es immer in Sicherheit sein würde.
Menley blickte auf den Ozean, wie er gegen die Sandbank anrannte und Fontänen salzigen Sprühnebels in die Luft spritzen
ließ. Sonnenstrahlen tanzten auf den Schaumkronen. Der Horizont war bereits mit Fischerbooten gesprenkelt. Sie öffnete das
Fenster und lauschte dem Jagdgeschrei der Möwen, dem hohen,
geschäftigen Zwitschern der Spatzen.
Mit einem Lächeln wandte sie sich vom Fenster ab. Nach drei
Tagen hatte sie sich eingewöhnt und fühlte sich wohl hier. Sie
ging von Zimmer zu Zimmer und stellte sich vor, was sie tun
würde, wenn sie die Räume neu herrichten würde. Das Elternschlafzimmer enthielt die einzigen echten alten Möbel. Die meisten Gegenstände in den anderen Zimmern waren von der Art,
wie man sie in einem Mietobjekt aufstellen mochte: billige Sofas, Tische mit Kunststoffbelag, Lampen, die nach irgendeinem
Trödelmarkt aussahen. Die lange Holzbank allerdings, die jetzt
grellgrün gestrichen war, konnte man abziehen und neu wiederherstellen. Sie strich mit der Hand darüber und stellte sich die
samtene Nußholzmaserung vor.
Die Paleys hatten massive bauliche Reparaturen am Gebäude
durchgeführt. Es gab ein neues Dach, die Installation war neu,
das Elektrosystem war neu, ebenso die Heizung. Eine Menge an
Ausbesserungsarbeiten war noch zu tun – vergilbte Tapeten mit
einem schrillen modernen Muster verunzierten das Eßzimmer;
nachträglich abgehängte Decken zerstörten die vornehme Höhe
der Wohnräume und der Bibliothek –, doch nichts davon war
von Bedeutung. Entscheidend war das Haus selbst. Es war bestimmt eine Freude, die Restaurierung zu vollenden. Es gab zum
Beispiel zwei ineinander übergehende Empfangszimmer – hätte
das Haus ihr gehört, so würde sie eines davon als Hobbyraum
benützen. Hannah und ihre Freunde würden dann später Freude
an einem Raum für sich haben.
Sie ließ die Finger über das Pfarrersschränkchen gleiten, das
neben dem Kamin in die Wand eingebaut war. Ihr waren die
Geschichten von den frühen Siedlern zu Ohren gekommen, wie
sie dem Geistlichen, wenn er sie aufsuchte, ein Gläschen bereithielten. Der arme Mann hatte es wahrscheinlich nötig gehabt,
Weitere Kostenlose Bücher