Das Haus der glücklichen Alten
Tod hinein zu verfolgen. Wenn Sie sich allein anschauen, was die für Klamotten am Leib haben. Als liefen sie in Gardinen herum, wie Zirkusschwuchteln, die ganz stolz darauf sind, dass sie den ganzen Plunder auf dem Kopf balancieren können. Nicht mal Frauen würden sich so aufdonnern wollen. Die sehen wirklich so aus wie jemand, der an Christus glaubt, irgendeinen Hungerleider, der das Elend predigte und in Elend lebte. Meinen Sie nicht, Anísio, fragte ich, meinen Sie nicht, dass man das auch in dem aufgeschlagenen Buch hier sieht? Gucken Sie sich nur mal genauer das Gesicht dieses Dicken hier an und dann denken Sie an die Armut, wie es sie gab, als wir jung waren, und wie das Regime uns allen das Leben versaute.
Dass Anísio, der kluge Anísio mit dem Licht in den Augen, an Gott glauben musste, beunruhigte und beleidigte mich. Er lächelte. Er strich mit den Händen über die Heiligen. Er hatte dort auch eine Bibel, und dann sagte er zu mir, es bekunde eher eine gefühlsmäßige Reife, wenn man instinktiv wisse, dass wir nicht allein seien. Und ich bestand darauf, dass das Mumpitz sei, dass es schon vor Christus jede Menge Propheten gegeben habe, die am fünfundzwanzigsten Dezember von jungfräulichen Müttern geboren wurden, die starben und dann am dritten Tag auferstanden. Diese Geschichte wurde unendlich oft erzählt, bis die Leute, weil man sie so oft erzählt hatte, am Ende glaubten, sie gehöre der Vergangenheit und nicht dem Reich der Phantasie an. Anísio lächelte wieder und forderte mich heraus, indem er mich an die Episode mit Mariechen erinnerte, die bis in die Nacht hinein mit mir zusammensteckte. Zu meiner großen Enttäuschung begriff Anísio überhaupt nichts und glaubte, wir würden, nachdem wir alle an Prostata- oder einem anderen Krebs gestorben wären, an einem anderen Ort erscheinen und über alles lachen. Mir war, als liefe irgendwo ein Film, und wir kämen plötzlich ins Bild, ohne Probe, in einem Überraschungskostüm, um auf den Punkt die Stichwörter zu lesen, die uns ewig in Gang halten würden. Das Leben nach dem Tod, sagte ich, ist eine Geistesverirrung. Es wäre obszön, wenn es einen Gott gäbe, Anísio, eine Abscheulichkeit. Wenn es diesen «lieben» Gott nämlich wirklich geben würde und er auch nur einen Rest von Ehrgefühl im Leibe hätte, würde er nach all den Schweinereien, die er auf dem Kerbholz hat, Harakiri machen. Anísio widersprach, ach, Senhor Silva, was Sie für Schweinereien erzählen. Was für Schweinereien. Das sagte er, und es trat ein Schweigen von drei Sekunden ein. Innerhalb von drei Sekunden, während ich auf dem Bett und er auf dem Stuhl saß und während ihn noch das Gesicht irgendeines Papstes von den aufgeschlagenen Seiten eines großen Buches anstarrte, spürten wir, wie sinnlos unser Streit war. Denn der Nachmittag war weit fortgeschritten und die Sonne machte da draußen das Gleiche wie jeden Tag, unbeeindruckt von unseren Meinungsverschiedenheiten und völlig gleichgültig ihnen gegenüber. Ja, die Sonne, die da ganz oben am Himmel stand und bestimmt über die Wolken und Engelchen hinaussehen konnte, rollte dort vorüber und tat allen gut. Chapeau, vor ihr musste man den Hut ziehen. Drei Sekunden Schweigen, und ich und Anísio, wir dachten wunderbar schnell an all das und lachten.
Arm in Arm mit Anísio ging ich zu Doktor Bernardo und bat ihn lautstark um Entschuldigung. Ich bestätigte meine Überzeugungen und verbürgte mich dafür, dass ich mit klarem Kopf an alldem weiter festhielt, was ich gedacht hatte, als ich in Rage geriet, aber ich bat um Entschuldigung, weil ich nicht wollte, dass man mich als einen ungebärdigen Alten ansah. Tatsächlich wollte ich etwas viel Wichtigeres. Er sollte verstehen, dass mein Kopf immer noch arbeitet, wie es sein muss. Was ich will, das will ich schon seit langem, keine Altersschwäche kann mich von dem abbringen, wozu ich mich mit meinem ganzen Verstand und meiner Entschlusskraft durchgerungen hatte. Doktor Bernardo mäßigte seine väterliche Herablassung und wollte verstehen, was ich meinte. Anísio setzte sich für mich ein. Man darf nicht über den Kummer unseres Freundes Silva hinwegsehen, Herr Doktor, man darf einen solchen Verlust und das, was der fehlende Gemeinschaftsgeist unserer Angehörigen bedeutet, nicht beiseiteschieben. Doktor Bernardo hielt sich alles in allem mehr an oberflächliche Psychologie und akzeptierte ohne Wenn und Aber das Argument, das ich vertrat. Man brauchte gar keine Schule
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