Das Haus Der Schwestern
hat, ist tot. Und sie hat es nicht vor ihrem Tod vernichtet. Das ist doch...«
»Sie hat es offenbar sehr gründlich versteckt. Ich finde wirklich, du hast kein Recht, es zu lesen.«
Barbara setzte sich ebenfalls an den Tisch, schob die verstreut liegenden Seiten ordentlich zusammen. »Ich werde es lesen«, sagte sie, »ob du mich dafür verurteilst oder nicht. Ich werde es lesen, weil ich es gefunden habe und weil es mich brennend interessiert. Ich habe nicht erwartet, daß du das verstehen würdest. Du nimmst keinen Anteil an den Menschen um dich herum, und deshalb drängt es dich auch nicht, etwas über die Geschichten dieses alten Hauses zu erfahren.«
Er ließ ein kurzes, ironisches Lachen hören. »Oh — da haben wir ja wieder die brillante Strafverteidigerin in ihrer Bestform vor uns! Aus einer Unrechtsposition immer zum Gegenangriff übergehen, das ist doch deine Devise. Dein stumpfsinniger, knochentrockener Mann nimmt natürlich keinen Anteil an den Menschen um ihn herum. Ganz im Unterschied zu seiner aufgeschlossenen, engagierten Frau. Weißt du, wie man dein Verhalten auch nennen könnte, Barbara? Neugierig und indiskret. Das sind Attribute, die dir zwar sicher nicht gefallen werden, aber sie bezeichnen genau das, was du bist!«
Seine Stimme klang scharf. Was er sagte, war zu hart, das wußte er, aber er wollte Barbara verletzen und gab diesem Wunsch zum ersten Mal, seit sie einander kannten, nach, ohne wie sonst seine stets höfliche, verbindliche Art zu wahren und seinen Worten damit die Spitze zu nehmen. Nachdem der Hunger und der Kampf gegen die widrigen Umstände ihn während der vergangenen zwei Tage sanft und müde hatten werden lassen, machte sich nun der Ärger über den ganzen Schlamassel, in den sie geraten waren, in ihm breit, und er verspürte eine heftige Aggression gegen Barbara. Sie konnte so wenig für die Situation wie er, aber er brauchte ein Ventil, für diese zwei Tage wie — und zwar hauptsächlich — für die vergangenen Jahre, in denen zu vieles unausgesprochen geblieben war, in denen er, wie es ihm nun schien, zu viele eigene Wünsche und Bedürfnisse hintangestellt hatte. Die Geschichte mit den gefundenen Aufzeichnungen machte ihn wütend, ärgerte ihn deshalb so, weil sie eminent typisch war für Barbara. In diesem unbezähmbaren Interesse an allem und jedem lag ihr Desinteresse an ihm und seinen Belangen begründet. Wie war die Welt doch so bunt, spannend und voller Schicksale und Geschichten — warum sollte sie da noch den Mann neben sich sehen?
Sie war zusammengezuckt bei seinen Worten, faßte sich aber rasch wieder. »Ich verstehe nicht ganz, warum du so scharf schießen mußt. Wenn du dich als stumpfsinnig und knochentrocken bezeichnest, dann ist das dein Problem. Ich habe dich nie so empfunden.«
»Wahrscheinlich empfindest du mich seit Jahren überhaupt nicht mehr. Wenn du ehrlich bist, dann mußt du zugeben, daß ich den am wenigsten interessanten Teil deines Lebens darstelle. Wahrscheinlich störe ich dich auch nicht besonders. Ich bin dir einfach relativ egal.«
»Bevor du im Selbstmitleid ertrinkst, solltest du vielleicht bedenken, daß immerhin ich es war, die diese Reise organisiert hat. Damit wir endlich einmal Zeit haben, um miteinander zu reden. Sieht so Desinteresse aus?«
Er machte eine Kopfbewegung zu dem Papierstapel hin. »Ich denke, du willst lesen und nicht reden«, sagte er bockig.
»Ach, verdammt!« Ihre Augen blitzten zornig. »Hör auf, dich wie ein Kind zu benehmen, Ralph! Wenn du reden möchtest, dann reden wir. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun!«
»Es hat etwas miteinander zu tun. Alles hat immer etwas miteinander zu tun«, sagte er, plötzlich erschöpft trotz der vielen Stunden Schlaf. »Barbara, ob du dieses Tagebuch...«
»Es ist kein Tagebuch!«
»Ob du es liest oder nicht, ist letztlich gleichgültig. Ich halte es nicht für richtig, aber du bist dein eigener Herr, und du mußt wissen, was du tust. Was mich an der Geschichte aufregt, ist wohl nur, daß es wieder diese Wesensart von dir deutlich macht, dieses ›Hallo, hier ist Barbara, wo gibt es etwas Neues, Aufregendes, Faszinierendes zu entdecken und erleben?‹ Die Prominentenan-wältin mit dem todsicheren Gespür für spektakuläre Fälle. Die Partylöwin in ihren superschicken Klamotten, die von einer Film-premiere zur nächsten Preisverleihung, zur Vernissage und von dort ins nächste In-Restaurant flattert. Die Frau, die mit den Top-Journalisten der Republik
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