Das Haus der Tänzerin
geisterhaft glänzende Klinge des Bajonetts. Ach, ich habe schon zuvor auf Menschen geschossen, aus der Sicherheit von Schützenlöchern und -gräben heraus, aber ich glaube, viele in diesem Krieg zielten, um danebenzuschießen. Doch das, o Gott, das wird mir für alle Ewigkeit auf dem Gewissen lasten.
Ich versuche, die Wahrheit in mir zu behalten, die guten Eigenschaften, die du kennst. Ich habe mich verändert, aber ich werde nicht zulassen, dass es mich ändert, wenn das verständlich ist. Ich will immer noch die Schönheit in der Welt sehen, Freya. Ich muss es. Ich bin nicht Capa – er schreibt die Poesie des Krieges mit seinen Bildern, eine tragische Poesie. Ich fühlte mich wie ein Dilettant im Vergleich zu ihm. Er ist getrieben, leidenschaftlich, impulsiv – alles, was ich nicht bin. Ich wünschte, ich wäre mehr wie er, Frey. Ich wünschte, ich würde nicht wissen, wie es ist, einen Menschen zu töten. Lass uns nie wieder davon sprechen.
Ein gutes neues Jahr,
dein dich liebender Bruder
Charles
Charles faltete den Brief zusammen und setzte sich eine Weile damit hin. Er kletterte aus dem Panzer, das Metall fühlte sich kalt unter seinen blutverkrusteten Fingern an. Er sprang hinaus in den Schnee und machte sein Feuerzeug an. Mit der Flamme zündete er sich seine letzte Zigarette an, dann die Ecke des Briefes. Er hob ihn in den Wind und sah zu, wie die goldene Flamme um das Papier züngelte, das sich einrollte und verkohlt in die Luft aufwirbelte, dahinter die gefrorene Stadt.
40
Valencia, Januar 2002
Vor dem Fenster schneite es stetig. Emma saß an ihrem Schreibtisch, Libertys Notizbuch vor sich. Sie hatte Stunden damit zugebracht, die Glasfläschchen mit Düften, die Liberty gesammelt hatte, auszupacken und sie in Gruppen zu ordnen: Zitrus, Gewürz, Kräuter, Blumen, Holz, Leder. Die anderen Kisten aus London standen ungeöffnet überall im Haus herum. Sie hatte nur die »Orgel« zusammenstellen wollen, um ihre Mutter hier irgendwie bei sich zu haben.
Emma wickelte sorgfältig das letzte Fläschchen aus, es war Boronia Absolue. Sie stellte es zu den Hunderten anderen Flakons von Essenzen und Absolues. Ein Fach füllte Emma mit ihren leeren Fläschchen und Etiketten, ein anderes mit ihren Duftstoffen. Schließlich platzierte sie die Waage in die Mitte des abgestuften Gestells und stellte ein leeres Glas darauf. Nun war sie bereit, aber sie wusste nicht, wo sie anfangen sollte. Sie wusste, welchen Duft sie herstellen wollte, es war wie eine vage erinnerte Melodie, die sie nicht singen konnte, aber sofort erkennen würde, sobald sie sie hörte. Sie war unruhig, nahm ihr Notizbuch und lief damit vor dem Fenster auf und ab. Sie las die Liste, die sie soeben geschrieben hatte:
Spanien – etwas Wundervolles:
Verführerische weiße Blumen
Holzrauch und Safran
Lavendelfarbene Berge, waldbeerfarbene Sonnenuntergänge
Blaue Kuppeln
Zitronenbäume
Schwimmende Brücken
Unendliche Nachthimmel voller Sterne …
Lucas Handgelenke , dachte sie. Die kleine Vertiefung unten an seinem Hals. Seine Haare im Wind. Stirnrunzelnd wählte Emma ein paar Fläschchen aus dem Gestell auf ihrem Schreibtisch aus. Sie wollte ihre Empfindungen in Duft verwandeln. Sie schloss die Augen, dachte an Blüten, Zeder … Bei dem Gedanken an ihn wurde der Duft intensiver, vermischte sich mit Erde. Mit Glaspipetten entnahm sie aus jedem Fläschchen ein paar Tropfen. Die Fläschchen stellte sie wieder weg, nachdem sie die Mengenangaben aufgeschrieben hatte. Erinnerungen, Assoziationen – Farben, Gerüche, Texturen – tanzten ihr durch den Kopf, als sie die Mischung einatmete. Seit ihrer Ausbildung in Grasse konnte sich Emma dreidimensional vorstellen, wie die Duftmoleküle zusammenwirkten, sich verbanden, sich veränderten. Sie stellte sich den Duft immer in Bewegung vor, wie ein Mobile in einem Chemielabor.
Sie brauchte noch etwas anderes. Sie wählte drei weitere Fläschchen aus: Neroli, Bitterorange, Petitgrain. Sie roch jeden einzelnen Duft und neutralisierte ihre »Nase« dazwischen, indem sie an Kaffeebohnen schnupperte. Der Geruch entspannte sie – sie erinnerte sich daran, dass Olivier gesagt hatte, der Geruch von Orangenblüten spiele eine Rolle in der Zen-Meditation. Trotzdem fehlt noch etwas.
Emma dachte daran zurück, wie sie mit Luca an diesem Nachmittag in den Orangenhainen spazieren gegangen war. Sie zog sich die Stiefel an und ging hinaus in den Schnee. Die Nachtluft schien lebendig, frisch, prickelnd. Sie
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