Das Haus der Tänzerin
er sie fotografierte, war er wieder in Jarama. War das wirklich erst vor anderthalb Jahren gewesen? Er blinzelte, als er sich an das Blutbad erinnerte. »Ich kann mich kaum noch erinnern, wie das Leben vorher war.« Seine Stimme bebte. »So viel von mir ist in Spanien gefangen.«
Capa trug einen übergroßen Kamelhaarmantel mit breitem Revers und Perlmuttknöpfen.
»Reiß dich zusammen, Mann.« Er reichte Charles ein Taschentuch.
»Es tut mir leid. Ich kann es einfach nicht glauben, dass es vorbei sein soll.« Er putzte sich die Nase.
»Das ist es auch nicht – nicht für sie.« Capa zeigte auf einen kleinen Jungen, der auf die Schultern seines Vaters gehoben wurde. »Nicht für uns. Wir haben hier immer noch einen Job zu erledigen. Wir müssen es der Welt erzählen.« Capa klappte Charles’ Kragen herunter, klopfte ihm den Staub von den Schultern. »Putz dich ein bisschen heraus, Charlie. Gerda hat mir beigebracht, wie man sich präsentiert. Wegen ihr sind meine Haare kurz geschnitten, trage ich eine Krawatte, sind meine Schuhe geputzt. Wegen ihr …« Traurig sah er zu, wie die Männer vorbeimarschierten.
Die republikanische Politikerin Dolores Ibárruri trat auf die Bühne.
»La Pasionaria«, murmelte Charles, als ihre Stimme über die Menschenmenge hinweg erklang. Selbst die blechernen Lautsprecher konnten die Kraft und Wärme ihrer Stimme nicht brechen.
»Diese Männer sind in unsere Heimat gekommen als Kreuzritter der Freiheit, um zu kämpfen und zu sterben für Spaniens Freiheit und Unabhängigkeit, die vom deutschen und italienischen Faschismus bedroht wurden. Sie gaben alles auf – ihre Sehnsucht, ihre Heimat, ihr Zuhause und Vermögen …« Charles sah Hugo an und erinnerte sich, wie er damals mit ihm am Cam auf dem Kahn herumgealbert hatte. Es war ihnen wie ein großes Abenteuer vorgekommen, nach Spanien zu gehen. »… sie kamen zu uns, um uns zu sagen: ›Hier sind wir! Eure Sache, die Sache Spaniens, ist unsere Sache. Es ist die gemeinsame Sache der gesamten fortschrittlichen Menschheit.‹«
Die Tausende, die sich auf der Straße versammelt hatten, jubelten. Charles betrachtete das traurige, kummervolle Gesicht des Kindes auf den Schultern seines Vaters.
»Ihr könnt stolz zurückgehen. Ihr seid die Geschichte. Ihr seid die Legende«, rief La Pasionaria.
»Ich gehe nicht«, sagte Charles. »Schau dir diese Leute an. Wir können die Katalanen nicht einfach alleinlassen – das wird eine Katastrophe. Die Verhältnisse in Barcelona werden nur schlimmer.«
»Ich habe gehört, dass einige Brigadisten inoffiziell noch bleiben«, sagte Hugo. »Sie schließen sich den Truppen der Republikaner an.«
»Dann müssen wir mit ihnen mit.« Charles lehnte den Kopf an den von Hugo, so wie es Kinder tun, die ein Geheimnis teilen. »Gemeinsam bis zum Ende?«
Hugo drückte ihm die Schulter. »Bis zum Ende.«
»Es ist aus, Hugo«, sagte Charles und kauerte sich in den Graben neben der Straße nach Barcelona, während die Flugzeuge wieder angriffen. Er kniff die Augen zu, als er die Flugzeuge immer näher und näher kommen hörte. Die letzte Welle hatte sie erwischt. Er war neben Hugo hergerannt und hatte gesehen, wie das Flugzeug herabstieß und direkt auf sie zukam. Die Menge vor ihnen teilte sich wie eine dunkle Flut, Menschen hasteten zum Straßenrand, Schreie mischten sich mit dem metallischen Rattern der Maschinengewehre, und Kugeln bahnten sich einen tödlichen Weg durch sie hindurch.
»Hierher!«, rief Hugo und zerrte Charles zu einem flachen Graben.
»Warte!« Charles warf einen Blick über die Schulter und sah einen kleinen, etwa zwei- oder dreijährigen Jungen. Er stand mit vor Verzweiflung aufgerissenem Mund mitten auf der Straße und heulte, weil er von seiner Mutter getrennt war. Charles lief zurück, Hugo hinter sich. Das Flugzeug war jetzt so nahe, er spürte die Einschläge, die Vibration der Kugeln, die auf der Erde auftrafen. Charles schnappte sich das Kind, und Hugo zog die Frau in den sicheren Graben, während die Flugzeuge über sie hinwegflogen.
Die Mutter und das Kind kauerten sich nun neben ihn, sie umarmten sich schweigend, bleich von dem Schock. Die Frau konnte Charles nicht ansehen. Er erinnerte sich noch, wie er im Graben gelandet war, die Erde, die auf seine Brust fiel, die Feuchtigkeit von dem Matsch und Schlamm, die durch seine Jacke drang. Er erinnerte sich an Hugo, der auf ihn stürzte. »Es ist aus«, murmelte er. »Jetzt, wo die Nationalisten durch die Ramblas
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