Das Haus der Tänzerin
los.
Sie erkannte die Sängerin sofort. Der Mann dieser Frau war in dem Moment aufgegriffen worden, als die Truppen in die Stadt eindrangen. Der klagende Schmerz in ihrer Stimme verlieh Rosas Bewegungen Schärfe und Präzision. Duende stieg von den Eingeweiden der Erde auf. Während die Musik spielte, verlor Rosa sich. Das war immer so. Das war ein Tanz, den sie im Blut, in den Knochen hatte. Sie war schon viele Male aufgetreten, hatte im Schatten der Alhambra für Lorca getanzt. Sie erinnerte sich, wie er rezitiert hatte, eine Beschwörung, wie selbst der Wind grün zu sein schien, wie die Äste zum Leben erweckt wurden. Ihre Füße stampften wie Donner, ihr Kleid peitschte durch die Luft. Sie tanzte, wie sie für Picasso im Albaicin getanzt hatte, wie sie für Jordi getanzt hatte, im Licht des Feuers in ihrer letzten gemeinsamen Nacht in den Ruinen bei Sagunto. Dort hatte sie gespürt, wie die Wärme der uralten Steine auf das Leben in ihren Armen und Beinen antwortete. Das war ihr größter Tanz gewesen, das wusste sie, ihre Leidenschaft, ihre Liebe zog die Geister der Erde an, die Geister aus den Ruinen. Nie mehr wieder würde sie so für irgendjemanden tanzen, und der Tanz heute Abend war nur ein Echo davon, ein Nachbeben. Es würde ihr letzter Tanz sein.
Der Rhythmus der Musik wurde schneller. Rosa spürte den Schmerz, die Leidenschaft in der Melodie. Sie fixierte den General, dann Vicente. Sie würden ihr niemals ihren freien Geist wegnehmen. Sie tanzte für den Mann, den sie liebte, und für das Land, das sie liebte.
Weiter ging es, die Musik, der Tanz wurden schneller und schneller. Ihre Gliedmaßen schmolzen in der Luft. Sie war nicht da. Sie sah Jordi auf die Küste zulaufen. Sie waren jetzt hinter ihm. Vicente hatte seinen Bruder verraten, dessen war sie sich sicher. Die Hunde und Soldaten waren dichtauf. Sie sah Jordi und Marco durch die Reisfelder auf ein altes Barraca-Bauernhaus zurennen. Sie versteckten sich in dem steilen Dach, und die Bauersfrau sagte: »Nein, ich habe hier niemanden gesehen.« Sie sah, wie die beiden auf den staubigen Fußbodenbrettern lagen und hinunterblickten, während die Soldaten die Frau nach draußen zerrten.
»Wir können das nicht zulassen«, flüsterte Jordi seinem Freund zu.
»Sie bringen sie sowieso um.« Marco schüttelte den Kopf. »Jeder weiß, dass es in dieser Familie Anarchisten gibt.«
Jordi überprüfte seine Pistole. »Würdest du lieber wie ein Held sterben oder wie ein Feigling leben?«
»Wenn sie mich einfach nur erschießen würden, würde es mir gar nicht so viel ausmachen«, antwortete Marco. »Ich möchte bloß nicht lebend gefangen genommen werden.«
»Na, dann komm.« Jordi umarmte seinen Freund. »Worauf warten wir noch?«
Die Musik war jetzt in ihr, raste durch ihr Blut. Irgendwo im Raum ertönte der »Olé! Olé!«, es wurde geklatscht. Aber sie war nicht da. Sie flog über die Erde, rannte wie der Wind hinter Jordi her, drängte ihn zum Meer. Die Kugeln flogen mit ihr, an ihr vorbei, während sie versuchte, ihn abzuschirmen. Marco fiel. Jordi lief zurück.
»Geh«, rief Marco, die Hand auf seine Seite gepresst, Blut rann durch seine Finger in den Sand.
»Nein! Ich lasse dich nicht zurück.« Jordi blickte auf und entdeckte ein kleines Fischerboot am Horizont. »Ich trage dich.«
Marco schrie auf, als Jordi versuchte, ihn hochzuheben. »Lass mich hier!« Aus der Nähe erklangen Rufe. »Aber lass auch deine Pistole hier. Geh, jetzt«, flüsterte er. Rosa sah, wie Jordi ihm die Pistole in die Hand drückte.
Rosas Füße schlugen einen wilden Rhythmus, Stakkato, Schnellfeuer wie ein Funkenregen, während die Musik zum Crescendo anschwoll. In der Hitze und dem Feuer sah sie, wie Marco sich die Pistole an die Schläfe setzte. Dann rannte sie wieder, rannte neben Jordi zum Boot.
»Wir sind Spanier«, hatte er zu ihr gesagt, als sie zum letzten Mal zusammen waren. »Für uns ist das Leben eine Tragödie.« Sie hatten einen letzten, verzweifelten Kuss ausgetauscht. »Salud, Rosa!« , hatte er gerufen. »Wir trotzen dem Tod, unsere Liebe hält ihm stand!« Immer schneller tanzte Rosa weiter, den Tanz ihres Lebens, ihre stampfenden Füße, noch ein, zwei Schläge, da hörte es urplötzlich auf. Seine Arme flogen in die Luft. Sie hob gleichzeitig ihre Arme und spürte, wie sie ihn verlor. Während er fiel, fiel auch sie, und ihr Geist verließ sie. Sie lag keuchend auf dem Boden, während um sie herum der Applaus toste. Sie schloss die Augen und
Weitere Kostenlose Bücher