Das Haus der Tänzerin
fünfzigtausend Menschen, die versucht haben zu fliehen. Vielleicht hatte er Glück, vielleicht auch nicht.«
»Vicente.« Sie sprach leise und hatte unter dem Tisch die Hände zur Faust geballt. »Was hast du gehört?«
Er zuckte selbstgefällig die Schultern. »Ein kleines Vögelchen hat mir gezwitschert, dass sie zu den Booten vor den Stränden bei der Albufera gerannt sind.« Er schnappte sich die Flasche und schenkte sich den Rest ein. »Abertausende sind dort«, wiederholte er und trank das Glas leer, »sie drängen sich an der Küste wie die Ratten. Marco ist erschossen worden.«
»O Gott, nein«, sagte Macu und hielt sich die Hand vors Gesicht.
»Und Jordi?« Er zog eine Grimasse. »Wer weiß … Was meinst du? Die beiden gegen die Truppen des großen Generalissimo.« Mit zornesrotem Gesicht wandte er sich seiner Frau zu. »Aber wen kümmert das überhaupt? Das ist die Vergangenheit. Wir sind die Zukunft, du und ich.« Vicente schob seinen Stuhl zurück, ging zu ihr und legte ihr die Hand auf den Bauch. »Unser Kind!«
Rosa warf einen kurzen Blick zu Macu hinüber. Sie merkte, wie sie um Fassung rang. »Natürlich, Vicente«, sagte sie ruhig,
»Jordi hat bekommen, was er verdient hat. Vergiss nie, dass ich die Truppen auf der Stelle herholen könnte, wenn ich wollte.« Er schnippte mit den Fingern vor Macus Gesicht.
»Warum tust du es dann nicht?«, fragte sie.
»Vielleicht sind ein paar von deinen Freunden davongekommen, aber die meisten werden gefasst und in die Gefängnisse und die Arenen gesteckt.« Er tat so, als würde er ein Gewehr spannen, und richtete den Zeigefinger auf Macu. »Du? Du wärst die Mühe nicht wert, die es mich kosten würde, in die Stadt zu fahren.« Er winkte ab. »Auf Wiedersehen, um dich ist es nicht schade. Das ist ein großer Tag. Die Flagge des alten Spanien weht wieder von unserem Balkon.« Er prostete Rosa zu. »Und du, meine Liebe, mein kleines Täubchen, bist wieder meine Frau. Nichts mehr von diesem › mi compañero ‹-Unsinn.«
»Ich hol dir noch Cognac.« Rosa zog Macu in die Speisekammer und schloss die Tür.
»Wie kannst du bloß hierbleiben? Dieser Mann ist ein Tier! Was er Jordi angetan hat, und Freya und mir …« Macu zitterte vor Erregung. Rosa öffnete in aller Ruhe das Schränkchen in der Ecke und suchte die Glasfläschchen durch, bis sie ein blaues fand. »Rosa, was ist das?«
»Nur ein bisschen Beruhigungsmittel. Ich will nicht, dass er mich heute Nacht anfasst.«
»Ich hätte gerne welches gehabt, als er hinter mir her war.«
Rosa stützte sich ab. Als sie aufblickte, waren ihre Augen dunkel und entschlossen. »Macu«, sagte sie und ergriff die Hand ihrer alten Freundin, »das tut mir leid. Wenn ich gewusst hätte …«
Macu schaute sie ernst an. »Es ist nichts. Verglichen mit dem, was er dir antut, ist es nichts. Aber du kannst ihn damit nicht davonkommen lassen.«
»Ich habe auch nicht die Absicht«, sagte Rosa gefasst. »Er hat meine Tochter bedroht, er hat den Mann, den ich liebte, verraten, seinen Bruder, und« – sie entkorkte eine Flasche Cognac – »er hängt ein Bild von diesem Mann in meiner Küche auf! Faschistenschwein!« Sie stieß einen Schwall von Kraftausdrücken aus wie einen Fluch, als sie ein wenig von dem Cognac ausgoss. »Es reicht«, sagte sie. Macu sah schweigend zu, wie Rosa die dunkelblaue Flasche nahm und sie vors Licht hielt. Sie stellte sich neben sie. »Für das, was er mir angetan hat, Freya, dir, Jordi, dafür wird er bezahlen. Wird die Welt ein besserer oder schlechterer Ort, wenn es einen Faschisten weniger gibt?« Sie schüttete den gesamten Inhalt der Flasche in den Cognac. Dann nahm sie das Tuch von der weißen Schüssel und schöpfte die Mischung durch einen Trichter in die Flasche.
»Rosa, was ist das?«
»Pass auf, komm nicht dran. Es sind die Blätter, die ich vorhin ausgekocht habe. Oleander«, sagte sie schlicht. »Ein paar Tropfen würden die meisten Männer umbringen. Für Vicente nehme ich mehr.«
»Ich kann dich das nicht tun lassen«, sagte Macu leise.
»Es hat nichts mit dir zu tun«, sagte Rosa. »Das ist allein meine Entscheidung. Vicente wird nie aufhören, er wird mich niemals gehen lassen. Je früher du gehst, desto sicherer bist du. Es dauert nicht mehr lange, bis die Truppen kommen, um das Dorf zu durchsuchen. Es ist sicherer, wenn du zu Hause bei Ignacio bist. Du darfst nie mehr wiederkommen, mich nie mehr wiedersehen.«
»Nein.« Macu umarmte sie fest. »Ich bleibe. Ich helfe
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