Das Haus der Tänzerin
auch immer du wissen willst.«
Emma steckte die letzte Lilie in die Vase und setzte sich auf die Bank neben ihnen. »Warum will mir niemand die Wahrheit sagen? Bitte erzähl mir, was hier passiert ist, nach dem Krieg, meine ich.«
»Es war eine schreckliche Zeit«, sagte Macu leise. »Ich hatte Glück. Die Santangels waren eine große Familie, sie haben mich geschützt. Ich habe versucht, Rosa zu helfen, aber als sie zurückkam, nachdem sie deine Mutter zu Freya gebracht hatte …«
»Hat sie versucht, Jordi zu erreichen? Wie ist es ihm ergangen?«
»Das weiß niemand. Viele Menschen sind einfach verschwunden.«
»Und Rosa?«
»Sie wurde mit den Leuten am Hafen eingekesselt und ins Gefängnis geschickt. Rettungsboote waren im Hafen, manche haben sogar Frauen und Kinder an Bord genommen. Aber diese Mistkerle haben sich nicht an die Abkommen gehalten. Die Nationalisten hatten zugesagt, sie würden den Flüchtlingen sicheres Geleit gewähren, aber es war eine Falle, eine abscheuliche Falle. Sie fingen sie wie Schmetterlinge im Netz.« Macus Atem bebte. »Da waren Männer, tapfere Männer wie Jordi und Marco, die sich auf den Kais umarmten und sich gegenseitig das Gehirn herausschossen, um nur nicht den Faschisten in die Hände zu fallen. Rosa erzählte mir, sie hätte miterlebt, wie sie sagten: ›Auf drei: uno, dos, tres … ‹ Bumm. Kannst du dir das vorstellen? Was für eine Art zu sterben.«
»Macu«, sagte Fidel, »vielleicht sollten wir noch warten. Es ist nicht gut für Emma und das Baby.«
»Nein. Emma will es wissen. Wenn sie hier ein neues Leben aufbauen will, muss sie die Wahrheit über unsere Familien kennen.« Sie schloss die Augen. »Die Menschen, die keine Kugeln hatten, um sich damit umzubringen, wurden in die Stierkampfarenen und die Gefängnisse getrieben. Es gab nichts zu essen, nichts für die Kinder, nur die Kleidung, die sie bei sich trugen.«
»Sie haben auch die Frauen und Kinder festgenommen?«, fragte Emma.
Fidel nickte. »Nach dem Krieg hatte es schon genügt, die Frau oder Freundin eines Roten zu sein. Nachdem Barcelona und Valencia gefallen waren, steckten sie Tausende, Hunderttausende in die Gefängnisse.«
»Niemand spricht darüber, was in den Gefängnissen vor sich ging«, sagte Macu, »oder in den Konzentrationslagern.«
»Wie in Nazideutschland?«, fragte Emma.
Macu nickte. »Es war grauenhaft. Die Menschen wurden wie Tiere behandelt, in Spanien, ihrem eigenen Heimatland, und in Frankreich.« Sie blickte über den Friedhof. »Die Misshandlungen während Francos Regime wurden ignoriert, als er 1975 starb – alle wollten einen einfachen Übergang in die Demokratie. Es gab keine Prozesse. Niemand will diesen ungeschriebenen Pakt des Schweigens brechen. Sie glauben, es ist besser, sich nicht zu erinnern.« Macu seufzte. »Aber selbst die Toten haben Rechte. Wir müssen sprechen, wir müssen dafür sorgen, dass das nie wieder passiert.«
Fidel verschränkte die Hände in seinem Schoß. »Es gibt keinen Frieden hier. So viele Familien wurden zerstört, so viele Kinder haben keine Eltern mehr. Wenn die Leute Spanien sehen, sehen sie das Land der Sonne, der Ferienhäuser, aber darunter … Man glaubt, hier wäre es nicht so schlimm, aber es gibt immer noch Leute, die nichts von mir kaufen, weil meine Familie zu den Roten gehörte.« Er verstummte. »Manchmal frage ich mich, ob das Feuer, dem meine Frau und ihre Mutter zum Opfer fielen … ich frage mich, ob das wirklich ein Unfall war.«
»Das kann doch nicht sein?«, sagte Emma.
Fidel zuckte die Schultern. »Meine Mutter war auch im Gefängnis. Sie war bei den Leuten, die am Hafen zusammengetrieben wurden, genau wie Rosa.« Er ließ den Kopf hängen. »Viele Kinder sind damals gestorben.«
»Haben sie die Kinder bei den Frauen gelassen?« Emmas Magen krampfte sich zusammen.
»Ja. Sie haben den Frauen vielleicht einen Hering am Tag gegeben, ein paar Nudeln in Meerwasser. Die Mütter hatten keine Milch mehr, die Babys sind gestorben. Es war entsetzlich, fürchterlich«, berichtete Macu. »Ein Wärter sagte zu Rosa: Wir wollen euch nicht davon überzeugen, dass wir im Recht sind, wir wollen euch bestrafen.« Sie sah Emma an. »Sie haben die Frauen behandelt wie Tiere.«
Emma dachte an Charles, und ihr wurde übel. »Ich verstehe.« Sie brachte nur noch ein Flüstern zustande. »Ich verstehe, warum die Menschen das verdrängen wollen. Ich komme mir vor, als hätte ich die Büchse der Pandora geöffnet.«
»Nein. Es ist
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