Das Haus der vergessenen Träume: Roman (German Edition)
Gesicht ist braun gebrannt bis auf die feinen, hellen Fältchen um die Augen, die er tagsüber oft zusammenkneift.
»Nein, nein, ich bin nicht krank. Nur müde. Ich habe lange nicht geschlafen«, sagt sie und lächelt wie trunken zu ihm auf. Er sieht ihr forschend ins Gesicht und streicht mit den Händen über ihren Körper, als wollte er sich vergewissern, dass sie heil und ganz ist. Dann kämmt er mit den Fingern ein paar kurze Strähnen aus ihrem Gesicht und küsst sie auf den Mund.
»Setz dich, Black Cat. Du siehst völlig erschöpft aus, Mädchen.« Er lächelt. »Schau – ich habe unterwegs etwas zu trinken gekauft. Möchtest du was?«
»Ingwerlimonade?«
»Ja, aber ich habe auch Bier, wenn dir das lieber wäre.«
»Nein, ich mag die Limonade«, sagt sie.
»Was ist denn passiert, während ich weg war?«
»Wie kommst du darauf, dass etwas passiert sei?«
»Ich sehe es in deinen Augen, Cat. Schlechte Neuigkeiten?« George nimmt zwei Becher von ihren Haken und schenkt ein.
»Nur schlechte Neuigkeiten. Ich bin ein einziger wandelnder Wermutstropfen«, sagt sie, und er wartet auf eine Erklärung. »Meine liebste Freundin Tess wurde zusammen mit mir verhaftet und eingesperrt – nicht nur mit mir, sondern meinetwegen, um die Wahrheit zu sagen. Jetzt steckt sie im Armenhaus, sie kann sonst nirgendwo hin. Sie ist fast noch ein Kind! Keine achtzehn Jahre alt. Und ich wollte sie heute besuchen, weil das der einzige Besuchstag im Monat ist, aber die Pfarrersfrau hat es mir nicht erlaubt. Und ich bin an allem schuld! Und der Gentleman … er hätte Tess das ersparen können. Er hätte sie nur einfach wieder einstellen brauchen. Er weiß doch, dass sie eigentlich nie Scherereien gemacht hat. Nicht so wie ich. Oder sie hierherschicken, das hätte er tun sollen! Sie an meiner Stelle hierherschicken, jawohl. Ich hätte das Armenhaus vielleicht verdient, aber sie doch nicht. Sie gewiss nicht.« Die Worte überschlagen sich förmlich, und ehe sie weiß, wie ihr geschieht, laufen ihr Tränen über die Wangen und schnüren ihr die Kehle zu.
»Na, na, nicht doch! Es hilft ihr auch nicht, wenn du dir deshalb die Augen ausweinst«, sagt George sanft. Er umfasst ihr Gesicht mit seinen rauen Händen und fängt die Tränen mit den Daumen auf.
»Aber ich muss ihr helfen, unbedingt. Vielleicht habe ich gerade genau das Richtige gesagt … ja, vielleicht ist es das!«, ruft sie mit weit aufgerissenen Augen aus.
»Cat, Liebling, du redest ziemlich unverständliches Zeug.«
»Sie sollte hierherkommen und meine Anstellung übernehmen. Ich finde es sowieso grässlich, ich halte es gar nicht mehr aus. Nur Lügen und … und Gefangenschaft! Aber Tess lehnt sich nicht gegen alles Mögliche auf, so wie ich. Sie wäre denen ein gutes Dienstmädchen, und dankbar, wie die Leute es von ihr erwarten. Sie müssen sie einstellen!«
»Und wohin dann mit dir? Sie werden euch kaum beide behalten, möchte ich wetten«, sagt George. Er runzelt leicht die Stirn und fängt Cats wild gestikulierende Hände ab.
»Ich gehe fort. Ist mir gleich. Ich gehe einfach … egal, wohin«, sagt sie. Dann verstummt sie und denkt ruhiger über ihre eigenen Worte nach. »Ich kann nicht für immer dort bleiben. Ich kann nicht so sein wie Sophie Bell. Das wird mich irgendwann um den Verstand bringen.«
»Vielleicht habe ich darauf eine Antwort«, sagt George leise. Er lässt ihre Hände los und geht durch die Kabine zu dem schmalen Bett, unter dem sein Seesack verstaut ist. Er zieht ihn heraus und kramt darin herum. »Ich hatte dich anders fragen wollen, und vielleicht nicht gleich heute Abend. Aber trotzdem …«
»Ich finde bestimmt eine andere Arbeit irgendwo. Nicht als Dienstmädchen. Vielleicht könnte ich Maschineschreiben lernen oder irgendwo in einer Fabrik arbeiten …«
»Das ist nur eine andere Art von Knechtschaft. Cat, hör mir zu.« Er kniet sich vor sie hin, sodass ihrer beider Augen auf einer Höhe sind. »Ich habe die Lösung, sage ich dir.« Cat runzelt die Brauen und bemüht sich, ihren Blick und ihre Gedanken auf ihn zu konzentrieren. In seiner Handfläche blinkt etwas Silbriges. »Dieser Ring hat meiner Großmutter gehört. Ich habe meine Familie besucht, als ich unterwegs war. Sie haben ihn für mich aufbewahrt für den Fall, dass ich ihn einmal brauchen sollte. Und der Fall ist jetzt eingetreten.«
»Du willst ihn verkaufen? Aber das Geld würde nie reichen, um …« Cat betrachtet kopfschüttelnd den schmalen, hellen Ring.
»Nein, ich
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