Das Haus der vergessenen Träume: Roman (German Edition)
rübersteigen und seine ehelichen Pflichten erfüllen, dann hätte ich mal eine Zeit lang nicht so viele Blutflecken zu schrubben. Oder tun Geistliche so etwas nicht?«
»Ich kann mir das kaum vorstellen, wie die beiden …« Mrs. Bell kichert, ehe sie sich besinnt. »Sei nicht so respektlos«, ermahnt sie Cat hastig.
»Aber ich habe nie gehört, wie sie es tun. Sie etwa?« Cat grinst schelmisch.
»Also wirklich! Ich habe nie nach so etwas gelauscht!«, erwidert Mrs. Bell, deren Augen ausnahmsweise einmal vergnügt funkeln.
»Man müsste wohl sehr genau hinhören, nehme ich an. Klingt wohl eher nach zwei keuchenden Kaninchen als nach einem röhrenden Hirsch«, sagt sie, und Mrs. Bell kann nicht anders, als laut herauszulachen.
»Cat, du bist unmöglich«, schnauft sie, um dann hastig zu husten und in Schweigen zu verfallen, als Hester vom hinteren Tor her den Hof betritt und auf sie zu kommt.
Hester hat den Vormittag damit zugebracht, die schmuddeligen, mageren Kinder der Bluecoat School zu unterrichten, einer kleinen Armenschule der Gemeinde. Das Schulhaus war früher einmal eine Kapelle. Das beengte, uralte Gebäude mit dem spitzen Giebeldach und niedrigen, schmalen Türen kauert ganz allein und Hesters Gefühl nach beinahe ein wenig verloren an der London Road am Rand von Thatcham. Doch an Schultagen wird es belebt von den Stimmen der zwanzig kleinen Mädchen, die schwatzen und lachen. Ihre Worte hallen von den Steinmauern und knorrigen Dachbalken wider. Wenn Hester eintrifft, setzen sich die Mädchen in ihren zerlumpten Kleidern hastig an ihre Pulte, werden ganz still und beobachten sie mit großen Augen, die wie Glasperlen blitzen. Hester liebt diesen Moment, in dem sie mit vor dem Rock gefalteten Händen dasteht und ihr das Herz in der Brust vor Freude schwillt.
Sie lehrt die Mädchen Kochen und Nähen, lässt sie Blumen pressen und Aufsätze schreiben und bringt ihnen Benehmen und korrekte Grammatik bei. Wann immer ihr etwas einfällt, von dem sie glaubt, es könnte den Mädchen nützlich sein, bemüht sie sich, sie auch darin zu unterweisen. Und obwohl die meisten von ihnen arm sind und selbst wiederum jung heiraten und Kinder bekommen, sich in der Landwirtschaft krummarbeiten oder eine Stellung in einem der großen Anwesen in der Umgebung suchen werden – Hester gefällt der Gedanke, dass es niemals vergeudete Zeit ist, ein Gedicht zu lernen, das noch der schlichtesten Seele ein wenig Trost bringen könnte. Für gewöhnlich ist sie nach ihrem Unterricht voller Energie, beschwingt und bestens aufgelegt. Heute jedoch nicht. Eine vage Sorge verfolgt sie, als hätte sie etwas Wichtiges verlegt. In Gedanken geht sie die Ereignisse der letzten Wochen noch einmal durch, verfolgt die Spur dieser Sorge zurück und bemüht sich vergebens, festzustellen, wo genau dieses überaus wichtige Etwas verloren gegangen sein könnte.
Ein ungewöhnlicher Laut lässt Hester aufblicken, und sie sieht Sophie Bell, die sich lachend über Cat und den Waschtrog beugt. Hester hält inne, und ihr wird bewusst, dass sie ihre Haushälterin zum allerersten Mal laut lachen hört. Sie nähert sich den beiden Dienstboten interessiert, doch als diese Hester entdecken, verstummt das Gelächter abrupt. Cat schrubbt weiter, und Sophie Bell wendet so schuldbewusst den Blick ab, dass Hester den starken Eindruck gewinnt, die beiden hätten sich gerade über sie lustig gemacht. Bestürzt merkt sie, dass ihr ganz unerwartet Tränen in die Augen steigen. Sie blinzelt hastig und lächelt, damit man ihr nichts anmerkt.
»Guten Morgen, meine Damen. Ich hoffe, es geht Ihnen beiden gut?«, sagt sie. Cat und Mrs. Bell nicken und murmeln dabei etwas vor sich hin. »Ich habe auf dem Rückweg von der Schule Mrs. Trigg besucht, Mrs. Bell. Sie hat sich nach Ihnen erkundigt.«
»Ach. Und wie geht es ihr? Schon besser?«, fragt Sophie.
»Ich fürchte, nein. Sie muss immer noch das Bett hüten. Ich weiß, dass sie sich über mehr Besuch sehr freuen würde«, bemerkt Hester.
Mrs. Bell nickt beflissen, sodass ihr Doppelkinn wackelt. »Ich werde bald bei ihr vorbeischauen, Madam«, sagt sie. Hesters Blick fällt auf den Waschzuber und die Flecken, an denen Cat herumschrubbt. Über ihren Ellbogen trocknet das Waschwasser schon zu schaumigen Ringen. Vielleicht haben die beiden deshalb über sie gelacht? Wieder brennen Tränen in Hesters Augen, und sie wendet sich abrupt ab, um an ihnen vorbei und weiter zur Vorderseite des Hauses zu gehen.
In diesem Moment
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