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Das Haus der verlorenen Kinder

Titel: Das Haus der verlorenen Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Serena Mackesy
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bringen.«

39
    Schrecklich stöhnt der kleine Bär: »Holt mal schnell den Doktor her!«
    Sie springt hoch und landet mit einem Plumps auf dem Boden. Das macht sie schon seit zwei Minuten, so lange hat sie gebraucht, um den Korridor entlangzuhüpfen, und sie freut sich an der Gleichmäßigkeit des Reims.
    »O mein Bauch! Was soll ich machen?« Aber alle Tiere lachen.
    Hüpf. Plumps.
    »Petz, du hast zu viel gegessen, hast dich wieder überfressen, stopfst dir voll den dicken Wanst, bis du nicht mehr japsen kannst.«
    Hüpf. Plumps.
    Schrecklich stöhnt der kleine Bär: »Holt mal schnell den Doktor her!«
    Hüpf. Plumps. Sie ist am Fuß der Treppe zum Dachboden angekommen. Bleibt stehen, weil sie von oben eine Stimme hört.
    »DICKER WANST!«, brüllt sie. Die Stimme hält inne, als lausche die Betreffende, dann fährt sie fort. Es ist Tessa, die mit ihrer sonoren Stimme singt.
    Sie singt »Greensleeves«, aber Lily, die ja keine gute Erziehung genossen hat, kennt dieses englische Volkslied natürlich nicht.
    Sie steigt die Treppe hinauf.
    Tessa befindet sich ganz hinten auf dem Dachboden, hinter dem Schlafraum, in dem die drei evakuierten Mädchen zu schlafen pflegten und in dem Lily noch immer schläft, hinter einer Tür, die, seit sie hier angekommen ist, stets verschlossen war. Selbstverständlich kommt Tessa an den Schlüssel ran. Die wollen ja nur langfingrige Eindringlinge fernhalten, nicht etwa irgendein schauriges Geheimnis wahren.
    Lily ist neugierig. Sie wollte schon immer wissen, was sich hinter dieser Tür verbirgt: hat schon immer vermutet, dass dieser Raum irgendwelche Schätze beherbergt.
    Sie schleicht zur Tür. Das Erste, was sie bemerkt, ist Staub. Staub und Staubdecken. Der Raum ist vollgestellt. Mehr als voll gestellt: gerammelt voll. Die müssen ja einen großen Teil der Sachen aus dem Schlafsaal in aller Eile hier herübergeschafft haben, weil an der Art und Weise, wie die Dinge herumliegen, keinerlei Ordnung zu erkennen ist. Das ist eine wahre Rumpelkammer: chaotisch und vollgestopft, aber faszinierend. Lily betritt den Raum. Sie kann Tessa nirgends entdecken. Erschrickt, als sie eine Gestalt erblickt, die von einer Staubdecke halb verdeckt ist, dann kichert sie beinahe los, als ihr klar wird, dass sie das selbst ist, die da von einem großen Spiegel reflektiert wird.
    »Probier das mal an«, sagt Tessa am anderen Ende des Raums.
    Lily erstarrt. Mit wem ist sie denn hier? Sie hat heute Morgen beziehungsweise seit Tessas Ankunft keinen Besuch kommen sehen. Tessa war wie an einem verregneten Wochenende gelangweilt durchs Haus geschlichen: Sie hat jetzt, da die anderen abgereist sind und um Lily immer ein großer Bogen gemacht wird, niemanden, mit dem sie in den Ferien spielen kann.
    »Dummkopf«, sagt Tessa. »Es geht doch darum, sich zu verkleiden, oder etwa nicht? Es spielt keine Rolle, ob etwas kaputtgeht. Die bewahrt doch niemand für die Nachwelt auf.«
    Lily schlängelt sich durch den schmalen, geschwungenen Gang zwischen den sich hoch auftürmenden Bergen aufeinandergestapelter Kartons. Gelangt zu einer freien Fläche und sieht Tessa auf dem unversiegelten Holzfußboden zwischen drei großen Blechtruhen knien. Unmengen von Stoff und Federn und Strass hängen heraus. Lily schnappt nach Luft. Noch nie hat sie so etwas gesehen. Kleider aus der Zeit ihrer Großeltern, Kleider aus einer Welt, die durch den Ersten Weltkrieg für immer dahin war. Samt, Brokat, Spitze und Seide. Armlange Handschuhe aus elfenbeinfarbenem Satin. Hüte in der Größe von Fahrradreifen, mit Marabufedern und weißen Gartenlilien aus Seide verziert. Abendkleider aus Satin, Damast und Crêpe de Chine. Bestickte Säume und Puffärmel und perlenbesetzte Träger. Tessa streckt einer der drei Puppen, die sie nebeneinander aufgereiht an die Wand gesetzt hat, eine Tiara hin, auf die Kupferblätter aufgeklebt sind. Sie trägt ein edwardianisches Ballkleid mit Wespentaille, das aber ohne die Unterkleider, die die Figur erst formen, seltsam unförmig aussieht, und das gequiltete Bustier hängt gerade und platt über ihrem Blümchenhemd herunter. Das Kleid ist ihr gute dreißig Zentimeter zu lang und fällt ihr wie eine riesige Windel um die Füße.
    »Nein?«, sagt sie. »Na ja, wenn du sie nicht willst, dann macht es dir sicher nichts aus, wenn ich sie aufsetze, oder?«
    Sie nimmt die Tiara und setzt sie sich auf ihre blonden Locken. Schiebt sich eine Haarsträhne hinters Ohr und präsentiert sich ihren gleichgültigen

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