Das Haus der verlorenen Kinder
eines der Kinder aus dem Dorf gewesen sein.«
»Und halten sich hier viele Kinder aus dem Dorf auf?«, fragt er.
»Nein. Nein, gar nicht. Ich habe keine Ahnung, wo sie hergekommen sein kann. Die Kinder aus der Gegend wissen genau, dass sie ohne Einladung nicht hier heraufkommen dürfen.«
»Weil es in der Broschüre nämlich heißt, dass es hier abgeschieden und friedlich ist.«
»Das ist es. Ich kann es Ihnen versichern. Tut mir leid, dass Sie nicht mit meiner Tochter gerechnet haben, aber ich verspreche Ihnen, dass sie kein Problem darstellen wird. Sie kennt die Regeln, seien Sie unbesorgt. Und ich werde sicherstellen, dass das Kind, das Sie da im Garten gesehen haben, wer immer das auch war, Bescheid bekommt, dass es nicht einfach hier auftauchen kann, ohne das zuvor mit mir abzusprechen.«
Bridget kreuzt hinter ihrem Rücken die Finger. Diese Woche wird sie alle Hände voll zu tun haben.
»Sie wissen ja, wie Kinder sind«, scherzt sie vorbeugend.
Bei genauerer Überlegung wisst ihr beide das wahrscheinlich nicht, denkt sie. An euch kann man sich keinen Marmeladefleck vorstellen. Und falls ihr Patenkinder haben solltet, dann schickt ihr denen an Weihnachten wahrscheinlich pädagogisch wertvolle Bücher.
»Ich werde versuchen, sie anderweitig unterzubringen«, sagt sie. »Sie hat Freundinnen im Dorf. Ich bin mir sicher, dass sie nach der Schule zum Spielen zu denen gehen kann.«
Sie antworten nicht. Ich rede hier offenbar gegen eine Wand. Ich muss daran denken, dass die Gäste kein Interesse an Details aus meinem Leben haben. Sie interessieren sich für mich nur als Anhängsel des Hauses. Du bist ein Dienstmädchen, Bridget. Gewöhn dich dran.
»Ich habe im Salon Feuer gemacht«, sagt sie, »und ich dachte, vielleicht möchten Sie an einem Abend wie diesem gern etwas Warmes essen, deshalb habe ich Scones in den Backofen getan und Sahne und Marmelade bereitgestellt. Nur als Willkommensgruß, wissen Sie.«
Sie scheinen weder überrascht noch sonderlich erfreut zu sein. Es ist ein Fehler, sich zu kümmern. Ich bin im Begriff, hier viel dazuzulernen. Diese Leute bedenken nie, dass man nichts umsonst kriegt. Jetzt, wo ich das gemacht habe, wo ich mich besonders angestrengt und ihnen ein Extra geboten habe, werden sie in den nächsten Tagen Tee und Gebäck als Selbstverständlichkeit erwarten.
Mrs Benson macht die Haustür zu. Okay, immerhin haben sie beschlossen, hierzubleiben. Das ist ja schon mal ein Anfang.
»Ich wette, Sie sind müde nach Ihrer Reise«, versucht sie es erneut. »Ich führe Sie herum, und dann lasse ich Sie in Ruhe, oder?«
Yasmin hat König der Löwen eingelegt, sitzt nur wenige Zentimeter vom Fernseher entfernt auf dem Boden und ignoriert sie. Nicht einmal, als sie ihr Kekse anbietet, reagiert sie.
Sie kniet neben ihr nieder und reibt ihr über den Rücken.
»Was ist los, Äffchen?«
»Nichts«, antwortet Yasmin mürrisch.
»Offenbar schon, sonst würdest du mit mir reden.«
»Nichts«, wiederholt Yasmin und schüttelt sie ab.
»Okay.« Bridget rappelt sich auf die Füße. »Na schön. Wenn du es mir erzählen willst, du weißt ja, wo ich bin, aber ich werde nicht den halben Nachmittag damit vergeuden, dich dazu zu überreden.«
Sie hebt ein Paar Socken auf und ist schon auf halbem Weg zur Tür, als Yasmin sagt: »Ich mag es nicht, wenn du so mit mir redest, das ist alles.«
Bridget bleibt stehen, schlägt die Socken in die Luft, damit die Zehenspitzen herauskommen.
»Manchmal«, entgegnet sie, »muss ich so mit dir reden. Manchmal ist es dringend. Manchmal musst du einfach machen, was ich dir sage, und zwar umgehend, und ich habe keine Zeit, dir das zu erklären und mit dir zu diskutieren. Es gibt hin und wieder Situationen, wo ich der Boss sein muss und du das hinzunehmen hast.«
»Ja«, antwortet Yasmin. »Ich verstehe. Du willst mich loswerden.«
»Ich – nein. Ich will dich nicht loswerden.«
»Lily sagt, dass du mich loswerden willst, sobald du erst einmal einen Freund hast. Sie hat gesagt, dass ich dir nicht trauen kann.«
Einen Freund? Himmel, die schnappen aber auch alles auf. Allem Anschein nach wissen sie meist nicht einmal, wie viel Uhr es ist, und dann kriegen sie plötzlich Sachen mit, die du selbst nicht einmal bemerkt hast.
»Ich – Yasmin, ich weiß nicht, wovon du redest. Ich werde dich nie im Stich lassen – niemals.«
»Sie hat gesagt, dass du das sagen würdest«, stellt Yasmin fest. Schaut sie böse an. »Sie sagt, dass ihr alle gleich seid und
Weitere Kostenlose Bücher