Das Haus der verlorenen Kinder
dass sie blutverschmiert sind.
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Irgendetwas ist mit Mrs Blakemore geschehen. Es hat sich seit dem Sommer langsam abgezeichnet, aber jetzt ist sie ganz allein in diesem hallenden Haus, die Angestellten sind längst gegangen, die Familie hat es ihnen gleichgetan, und der Winter, der sich mit diesen starken Regenfällen ankündigt, scheint die Sache noch beschleunigt zu haben. Ihr Gesicht, das bei Lilys Ankunft so ordentlich gepudert war, ist inzwischen gar nicht mehr geschminkt, die Muskeln unter der Haut sind schlaff geworden, und ein halbes Dutzend dicker schwarzer Haare sprießt unbehelligt an ihrem Kinn und der Oberlippe. Sie macht sich mittlerweile nur noch selten die Mühe, sich richtig anzuziehen; schlurft in einem wollenen Herrenmorgenmantel und Slippern durchs Haus, hinterlässt Essensflecke und zieht eine Schwade Körpergeruch hinter sich her.
In diesen Tagen kommt niemand mehr zum Haus. Keine Lieferanten, keine Nachbarn, nicht einmal der Postbote, weil er scheinbar nichts zu bringen hat. Jetzt, da die Ferien vorüber sind und Lily von der Schule verwiesen wurde, ist es so, als wäre das Haus mitsamt seinen Bewohnern in Vergessenheit geraten, isoliert, als litten sie an einer ansteckenden Krankheit. Jetzt sind nur noch sie beide da: eine Frau, die Selbstgespräche führt, und ein Kind, das mit niemandem redet.
Lily hat es aufgegeben fortzulaufen. Sie hat es so viele Male vergeblich versucht, dass sie schließlich begreift, dass es kein Entrinnen gibt. Keine Mum, zu der sie zurückgehen könnte, und eigentlich auch kein Portsmouth, weil sie erst neun Jahre alt ist und noch immer nicht richtig lesen kann und nicht mehr weiß, wo Portsmouth von Bodmin aus gesehen liegt – genauso wenig würde sie den Weg nach London finden. Sie weiß lediglich, was sie gehört und was sie gesehen hat: Dass sich zwischen ihnen und der Außenwelt riesige Gebiete des Bodmin Moors und des Dart Moors erstrecken, dass die hiesige Winterkälte ihr sogar im Haus in die Knochen kriecht, ganz zu schweigen davon, wenn sie hinausgeht und sich dem heftigen Westwind aussetzt. Sie weiß, dass man Erwachsenen – selbst jenen, die so tun, als stünden sie auf deiner Seite, jenen, die lächeln und dir Pfefferminzbonbons schenken – nicht trauen kann, keinem, niemals, und dass eine ganze Welt von Erwachsenen zwischen ihr und ihrem Zuhause steht. Inzwischen begreift Lily, dass ihr vom Schicksal bestimmt ist, hierzubleiben, dass sie, was immer sie unternimmt, wohin auch immer sie flieht, am Ende, als wiederkehrender Albtraum, genau an der Stelle landen wird, von der sie aufgebrochen ist.
Hin und wieder laufen sie sich in den Fluren oder in der Küche über den Weg. Gelegentlich unternimmt Lily, mit den Lebensmittelkarten in der Hand, meilenlange Ausflüge hinunter ins Dorf, denn sonst müssten sie sich ausschließlich von Porridge und Gemüse aus dem Garten hinter dem Haus ernähren. Sie hat in den Geschäften alles Mögliche auf die Rechnung des Hauses setzen lassen, aber sie bezweifelt, dass sie noch lange werden anschreiben lassen können. Mrs Blakemore scheint es gar nicht zu bemerken. Sie geht nur selten ans Telefon. Zieht es vor, ihre Zeit damit zu verbringen, die vor dem Krieg gefüllten Alkoholbestände im Keller leer zu trinken und ausdruckslos aus dem Fenster auf die silberne Winterlandschaft zu starren. Lily weiß nicht, was passieren wird, wenn die Geschäfte ihnen am Ende nichts mehr geben werden. Sobald das Getreide aufgebraucht ist, werden sie sich wahrscheinlich ausschließlich von Gemüse ernähren müssen.
Lily bekommt nicht so leicht Angst, aber sie ist wegen Mrs B. nervös. Sie weiß, dass sie hier unerwünscht ist, weiß, dass man sie, wenn das Ministerium ihre Papiere findet, auf der Stelle abholen würde. Sie wünscht sich inständig, dass sie sie finden mögen. Im Kinderheim wäre es besser als hier, denkt sie. Im Kinderheim würde zumindest jemand wissen, dass ich existiere. Wenn ich wüsste, wie, dann würde ich sie veranlassen, dass sie mich holen kommen.
Wie auch immer, ich muss weg von hier. Die alte Frau ist verrückt geworden. Es ist, als wäre jemand gekommen und hätte ihre Seele mitgenommen. Wenn wir in Portsmouth wären, wenn wir unter armen Leuten wären, dann hätten sie die inzwischen längst abgeholt, ihre Wohnung geräumt und sie sicher weggesperrt. Wären wir in Portsmouth, dann hätten sie mich sicher weggesperrt, nach dem, was ich in der Schule angestellt habe, anstatt mich rauszuschmeißen und
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